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Virtuelles Parlament
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Peter Fuchs

Die Reichstagsverhüllung:
Ein spill-over-Ereignis?

3. Die Attacke auf das Gedächtnis der Politik

An welcher Stelle entfaltet die Reichstagsverhüllung ihre subversive Kraft, wenn es um das Politiksystem geht? Wo droht es, dessen Autonomie zu unterminieren? Wo steckt jenes gefährdende Moment, dessenthalben das Politiksystem sich mit Kunst zu beschäftigen hat? Die Gefahr liegt kaum auf der Ebene der Codierung, der Unterscheidung von Macht/Ohnmacht (und der Filiation anschließender Unterscheidungen wie konservativ/progressiv oder Innehaben/Nichtinnehaben eines Amtes oder Steigerung/Minderung von Wahlchancen). Der Eindruck ist nicht, daß das Politiksystem, konfrontiert mit der Verhüllung, in das Problem einer Selbstverwechslung geraten sei, daß es selbst nicht mehr wisse, wo es ein- und wo es ausgeschaltet ist. Die Autopoiesis des Systems basiert nach wie vor auf eigenspezifizierter Informativität, und es war ja ganz offensichtlich, daß die Mitglieder des Bundestages nicht damit begannen (so erfrischend es gewesen wäre), kunstförmig an Christos Projekt anzuschließen, sich selbst oder ihre Nachbar/inne/n einzupacken, den Kanzler zu verstauen und einzuschnüren oder Aquarellkästen auszupacken, um auf künstlerische Weise das Geschehen zu beobachten. Man diskutierte statt dessen auf Annahme/Ablehnung einer politischen Entscheidungsvorlage hin, business as usual, und nur der Erregungsgrad, die Pathosformeln, die Beschwörungen suggerierten, es stünde werweißwas auf dem Spiel, vor allem aber die mögliche Kontamination oder Bereicherung eines historisch-politischen Symbols.

Tatsächlich ist die Referenz auf dieses Symbol der entscheidende Punkt. Verzichtet man nämlich auf eine ontologisierende Redeweise, die klären will, ob der Reichstag eine symbolische oder historische Realität wirklich habe, fragt man also nicht, was sich an diesem "Etwas" durch Verhüllung faktisch verändert, kann man eine andere Frage einführen: Wie fungiert der `Reichstag' (und andere Symbole) im Politiksystem?

Die Antwort ist schwierig und leicht zugleich. Die leichte Version sagt: Er gehört in den Gedächtniskontext des Politiksystems. Die schwierige Version formuliert: Weil autopoietische Systeme kein Gedächtnis haben (sie "bestehen" ja nur aus zeitkleinen Ereignissen), benötigen sie externe Abstütz- oder Trägheitsmomente, die eine (wie immer prekäre) Dauer etablieren, an der sich die viel schnelleren Operationen des Systems orientieren (Fuchs 1995). Die Bedingung der Möglichkeit des Gedächtnisses autopoietischer Systeme ist an Zeitdifferenzen geknüpft, die sich an die System/Umwelt-Differenz anlagern lassen, und man wird annehmen können, daß die Verzögerungen, die Bremswirkungen (Hysteresis) der Umwelt von verschiedenen Systemen auf je selbstselektive, immer aber vielfältige Weise in Anspruch genommen werden(7). Es mag dabei sein (ich verkürze die Argumentation sehr stark), daß einige jener in Anspruch genommenen externen Trägheitsmomente zu Attraktoren von Zurechnungen werden, die sich der Selbstbeschreibung der Systeme so inkorporieren, daß sie zu Generatoren von Systemidentitäten werden, zu Stabilisatoren, an denen die Systeme hin und wieder ihre interne (historische) Konsistenz überprüfen. Das geschieht (Autopoiesis vorausgesetzt) im Selbstkontakt der Systeme, wiederum eigenspezifiziert und immer so (sonst ginge es nicht um Gedächtnis), daß Änderungen langsam geschehen und nicht: katastrophisch. Schlagartige Änderungen würden das System zur ebenso schlagartigen Dekonstruktion seines Gedächtnisses zwingen, und eben dies gilt es zu vermeiden, vor allem dann, wenn diese Änderungen fremdinduziert und nicht selbstgesetzt wären.

Die Subversion der Reichstagsverhüllung greift eben hier an, sie droht das Systemgedächtnis zu lädieren. Diese Läsion arbeitet punktgenau mit der Zeitdifferenz vorher/nachher(8). Was immer die Verhüllung selbst (während ihrer Dauer) sein mag - die Weise, wie der "Reichstag" als Referenzpunkt für die Stabilisierung des Politiksystems genutzt werden kann, wird vorher eine andere gewesen sein als nachher, und es ist nachgerade verblüffend, welche (im Prinzip begrifflose) Witterung die Politiker/innen für dieses Problem hatten. Man wird im übrigen mitsehen müssen, daß diese Verletzung übergreift auf andere Systeme, die auf je ihre Weise den "Reichstag" als Stabilisierungsmoment für ihre eigene Autopoiesis einsetzen. Ein Beispiel dafür wäre das Rechtssystem, das in einem komplexen symbiotischen Arrangement mit dem Politiksystem steht.

Die besondere Subversion im Ereignis der Reichstagsverhüllung erweist sich dieser These nach jedenfalls als (punktuelle, aber Generalisierungseffekte streuende) Attacke auf das Systemgedächtnis der Politik. Die Raffinesse liegt darin, daß die Politik sich in einen Abwehrkampf verwickelte, an dessen Ende sie positiv über die Dekonstruktion und über die nicht von ihr selbst inaugurierte Reorganisation eines ihrer Gedächtnissegmente (mit dem ganzen Rattenschwanz einer damit verknüpften nationalen Semantik) entschied. Sie nahm dabei die Möglichkeit symbolischer Augmentation oder Erosion eines für sie zentralen Referenzsymbols in Kauf, läßt sich dafür progressiv feiern und konservativ verdammen, aber muß nun mit den Folgen (welche immer es sein mögen) jener grandiosen und diffusen Ironisierung leben, die Christo mit der Verhüllung inszeniert. Die Subversion der Verhüllung macht die beteiligten politischen Akteure/Aktricen (obgleich die Autonomie des Systems nur illusiv, nur illusorisch unterwandert wurde) zur Komparserie des Kunstsystems, das (um nun auch das noch paradox zu formulieren) seine Grenzen überschritt, ohne sie zu überschreiten. Die Politik hatte im Grunde keine Möglichkeit, von sich aus über Kunst/Nichtkunst des Ereignisses zu entscheiden. Unter modernen Bedingungen kann das nur noch die Kunst selbst: Sie bindet sich in ihrer historischen Determination durch die Bezeichnung von Etwas als Kunst oder Nichtkunst, und sie setzt dabei das Medium des "unstrittigen" Künstlers ein, der über die Bezeichnungsmacht verfügt, die die Kunst ihm verleiht und die sonst niemand hat, schon gar nicht: die Politik.

4. Spill-over Effekte als Herausforderung der Soziologie

Was kann ein weiterer Beobachter (die Wissenschaft von der Gesellschaft) von jenem Ereignis lernen? Die Soziologie lernt, daß die Theorie funktionaler Differenzierung, wenn sie strictissime gehandhabt wird, ab einem gewissen Entwicklungsgrad Prozesse der Subversion zwischen Funktionssystemen beobachten muß, die an der Polykontexturalität der modernen Gesellschaft parasitieren(9). Ich möchte, ohne das hier vertiefen zu können, sogar davon ausgehen, daß diese Prozesse, diese Subversionen, diese diffusen Ereignisse der dritten Art ins Zentrum soziologischer Aufmerksamkeit rücken werden. Dies wird schon deshalb geschehen, weil das Bild funktionaler Differenzierung, das wir kennen, zu klar geschnitten erscheint und noch nicht sehr viel Raum bietet, idosynkratische Morphogenesen zu identifizieren, Prozesse, die an der Binarität der Funktionssysteme parasitieren und (wie etwa im hier diskutierten Fall) zu komplexen Unterwanderungsarrangements führen können.

Zugleich läßt sich lernen, daß die Selbstbeobachtung der Gesellschaft via Massenmedien zwar dem Augenschein nach auf den Neuigkeitswert von Ereignissen angewiesen ist (und in einem fort selbst Ereignisse mit Neuigkeitswert konstruieren muß), daß sich aber hinsichtlich dieser Selbstbeobachtung theoretisch tiefer loten läßt, wenn man sagt, daß jene Medien massiv reagieren, wenn sie es mit spill-over-Ereignissen zu tun bekommen, mit Überschwappereignissen, die sich nicht auf die Domäne (die Kontexur) beschränken, in der sie erzeugt werden.

Die Reichstagsverhüllung scheint ein Ereignis dieses Typs zu sein. Es würde sich für die Soziologie vermutlich lohnen, sie sorgfältig zu beobachten.


    (1)Etwa in dem Sinne, in dem M. Serres diesen Begriff gebraucht.

    (2)Siehe zum Theoriehintergrund N. Luhmann 1984 und P. Fuchs 1992.

    (3)Der Konjunktiv Perfekt verweist darauf, daß der "Multiplexcharakter" jener Ereignisse zugleich in der besonderen Zeitstruktur autopoietischer Ereignisse zu suchen ist, die sich über die Differenz von Identität und Differenz ihre virtuellen Identitäten (ihre Ereignisse) schaffen. Das ist eine furchtbar abstrakte Formulierung, aber sie besagt eigentlich nur, daß jedes Ereignis kein An-sich-Ereignis ist: Es "erhält" seine Identität durch die Differenz zu Folgeereignissen, die bestimmen, was es gewesen ist, und dieseBestimmung ist virtuell und immer revidierbar. Was eine Liebe gewesen ist, entscheidet sich immer im Modus der Nachträglichkeit, und nach fünf Jahren anders als nachzehn und nach einer Scheidung wieder anders als zuvor.Selbst über den Anfang einer Liebesbeziehung kann immer wieder disponiert werden, sogar darüber, ob es überhaupt eine gewesen sei. Eine davon unabhängige Beobachtung müßte "natürlich" sein,also indifferent gegenüber der Differenz (siehe zur Formulierung Schelling 1982: S. 309).

    (4)Diese Idee gab es natürlich schon viel länger, aber sie hatte in der Aufklärung sozusagen einen neuen Startpunkt (siehe dazu das Kapitel über das aufklärerische Displacement in Fuchs 1993). An die Stelle der Parallelisierbarkeit der beobachtenden Subjekte auf der Basis von Vernunft tritt in der Gegenwart die Zwangsparallelisierung auf der Basis von Indoktrination und Terror.

    (5)Hier ist, um es zu betonen, die Rede von der Gesellschaft und ihren elementaren Einheiten (Kommunikationen) und nicht von den Beobachtungsleistungen psychischer Systeme, die im Moment, da sie mitgeteilt werden, der gesellschaftlichen Dynamik subordiniert sind.

    (6)Die Bundestagsdebatte ist dafür ein schlagendes Beispiel.

    (7)Ich will (da diese Überlegungen nicht auf konsolidierte Forschungen zurückgreifenkönnen) mit wenigen Beispielendas Problem verdeutlichen: Schwärme von Zugvögeln nehmen bekanntlich bestimmte, für den Beobachter identifizierbareFormen an, zum Beispiel die eines Keiles. Woher weiß der Schwarm, welche Form errealisiert, wenn diese Form weder im Einzelvogel repräsentiert sein kann noch in derForm des Schwarmes selbst, oder anders gefragt: Was ist das Gedächtnis dieser keilförmigen Formation? Es muß sich, so die Überlegung, aus der Differenz der schnellen Bewegungen des Einzelvogels und der Langsamkeit des Gesamtarrangementsergeben. Der Einzelvogel kippt in eine andere Lage, wenn der Nachbarvogel kippt,aber dann kippt noch nicht die ganze Form. Dazu kommen Trägheitsmomente dermaterialen Art: Magnetismus, Sonnenstand, Schwerkraft etc. Bei Revuegirltruppenkann man ähnliches beobachten: Die Beine werden gehoben, es entsteht eine Art Wellenbewegung von der ersten bis zur letzten Tänzerin, und das Gedächtnis derTanzformation ergibt sich aus der schnellen Beobachtung der Nachbarin aus den Augenwinkeln und aus den langsameren Redundanzeffekten der Musik. Und natürlich käme keine Kommunikation zustande, wenn nicht Materialitäten (Luft, Schrift etc.) die schnelle Autopoiesis des Bewußtseins bremsten.

    (8)Die ästhetische Dimension der Verhüllung stand und steht außer Frage, oder besser: die Inkompetenz jedes Nichtkünstlers, sie anstelle der Kunst für die Kunst zu bestreiten.

    (9)Man könnte sagen: an den Untertunnelungen, die die Spencer-Brownsche Logik vorsieht (Spencer-Brown 1979). Ich deute damit Wege an, dieses Kalkül einzusetzen, umjenen Subversionen sauberer auf die Spur zu kommen. Im übrigen gibt es andere Prozesse, die an der Form der Polykontexturalität parasitieren (Fuchs/Schneider 1995).


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