Tatsächlich ist die Referenz auf dieses Symbol der entscheidende Punkt. Verzichtet man nämlich auf eine ontologisierende Redeweise, die klären will, ob der Reichstag eine symbolische oder historische Realität wirklich habe, fragt man also nicht, was sich an diesem "Etwas" durch Verhüllung faktisch verändert, kann man eine andere Frage einführen: Wie fungiert der `Reichstag' (und andere Symbole) im Politiksystem?
Die Antwort ist schwierig und leicht zugleich. Die leichte Version sagt: Er gehört in den Gedächtniskontext des Politiksystems. Die schwierige Version formuliert: Weil autopoietische Systeme kein Gedächtnis haben (sie "bestehen" ja nur aus zeitkleinen Ereignissen), benötigen sie externe Abstütz- oder Trägheitsmomente, die eine (wie immer prekäre) Dauer etablieren, an der sich die viel schnelleren Operationen des Systems orientieren (Fuchs 1995). Die Bedingung der Möglichkeit des Gedächtnisses autopoietischer Systeme ist an Zeitdifferenzen geknüpft, die sich an die System/Umwelt-Differenz anlagern lassen, und man wird annehmen können, daß die Verzögerungen, die Bremswirkungen (Hysteresis) der Umwelt von verschiedenen Systemen auf je selbstselektive, immer aber vielfältige Weise in Anspruch genommen werden(7). Es mag dabei sein (ich verkürze die Argumentation sehr stark), daß einige jener in Anspruch genommenen externen Trägheitsmomente zu Attraktoren von Zurechnungen werden, die sich der Selbstbeschreibung der Systeme so inkorporieren, daß sie zu Generatoren von Systemidentitäten werden, zu Stabilisatoren, an denen die Systeme hin und wieder ihre interne (historische) Konsistenz überprüfen. Das geschieht (Autopoiesis vorausgesetzt) im Selbstkontakt der Systeme, wiederum eigenspezifiziert und immer so (sonst ginge es nicht um Gedächtnis), daß Änderungen langsam geschehen und nicht: katastrophisch. Schlagartige Änderungen würden das System zur ebenso schlagartigen Dekonstruktion seines Gedächtnisses zwingen, und eben dies gilt es zu vermeiden, vor allem dann, wenn diese Änderungen fremdinduziert und nicht selbstgesetzt wären.
Die Subversion der Reichstagsverhüllung greift eben hier an, sie droht das Systemgedächtnis zu lädieren. Diese Läsion arbeitet punktgenau mit der Zeitdifferenz vorher/nachher(8). Was immer die Verhüllung selbst (während ihrer Dauer) sein mag - die Weise, wie der "Reichstag" als Referenzpunkt für die Stabilisierung des Politiksystems genutzt werden kann, wird vorher eine andere gewesen sein als nachher, und es ist nachgerade verblüffend, welche (im Prinzip begrifflose) Witterung die Politiker/innen für dieses Problem hatten. Man wird im übrigen mitsehen müssen, daß diese Verletzung übergreift auf andere Systeme, die auf je ihre Weise den "Reichstag" als Stabilisierungsmoment für ihre eigene Autopoiesis einsetzen. Ein Beispiel dafür wäre das Rechtssystem, das in einem komplexen symbiotischen Arrangement mit dem Politiksystem steht.
Die besondere Subversion im Ereignis der Reichstagsverhüllung erweist sich dieser These nach jedenfalls als (punktuelle, aber Generalisierungseffekte streuende) Attacke auf das Systemgedächtnis der Politik. Die Raffinesse liegt darin, daß die Politik sich in einen Abwehrkampf verwickelte, an dessen Ende sie positiv über die Dekonstruktion und über die nicht von ihr selbst inaugurierte Reorganisation eines ihrer Gedächtnissegmente (mit dem ganzen Rattenschwanz einer damit verknüpften nationalen Semantik) entschied. Sie nahm dabei die Möglichkeit symbolischer Augmentation oder Erosion eines für sie zentralen Referenzsymbols in Kauf, läßt sich dafür progressiv feiern und konservativ verdammen, aber muß nun mit den Folgen (welche immer es sein mögen) jener grandiosen und diffusen Ironisierung leben, die Christo mit der Verhüllung inszeniert. Die Subversion der Verhüllung macht die beteiligten politischen Akteure/Aktricen (obgleich die Autonomie des Systems nur illusiv, nur illusorisch unterwandert wurde) zur Komparserie des Kunstsystems, das (um nun auch das noch paradox zu formulieren) seine Grenzen überschritt, ohne sie zu überschreiten. Die Politik hatte im Grunde keine Möglichkeit, von sich aus über Kunst/Nichtkunst des Ereignisses zu entscheiden. Unter modernen Bedingungen kann das nur noch die Kunst selbst: Sie bindet sich in ihrer historischen Determination durch die Bezeichnung von Etwas als Kunst oder Nichtkunst, und sie setzt dabei das Medium des "unstrittigen" Künstlers ein, der über die Bezeichnungsmacht verfügt, die die Kunst ihm verleiht und die sonst niemand hat, schon gar nicht: die Politik.
Zugleich läßt sich lernen, daß die Selbstbeobachtung der Gesellschaft via Massenmedien zwar dem Augenschein nach auf den Neuigkeitswert von Ereignissen angewiesen ist (und in einem fort selbst Ereignisse mit Neuigkeitswert konstruieren muß), daß sich aber hinsichtlich dieser Selbstbeobachtung theoretisch tiefer loten läßt, wenn man sagt, daß jene Medien massiv reagieren, wenn sie es mit spill-over-Ereignissen zu tun bekommen, mit Überschwappereignissen, die sich nicht auf die Domäne (die Kontexur) beschränken, in der sie erzeugt werden.
Die Reichstagsverhüllung scheint ein Ereignis dieses Typs zu sein. Es würde sich für die Soziologie vermutlich lohnen, sie sorgfältig zu beobachten.