Die Kuppel von 1895-96
Foto: Archiv Cullen
Die Fläche des provisorischen Plenarsaales betrug 621,5 qm, als erstrebenswert nannte er 740 qm. "Im allgemeinen dürfte das bisherige Arrangement im Sitzungssaale auch für die Zukunft beizubehalten sein. Die Einrichtung von je 2 Plätzen, wodurch das Ein- und Austreten der Mitglieder in ungestörter Weise vor sich gehen könnte, dürfte zu erstreben, jedenfalls aber die Einrichtung von mehr als 4 Plätzen zu vermeiden sein."
In den Sitzungen der Subkommission wurde der Raumbedarf auf "zwischen 600 und 640 m[[twosuperior]]" geändert, mehr wäre für die Akustik beeinträchtigend. Zum bequemen "Ein- und Austreten der MdR" entschied die Subkommission: "In dem Sitzungssaal sind anzuordnen: a) Amphitheatralisch angeordnete Sitze für 400 Abgeordnete. Das Steigungs-Verhältnis des Saalbodens ist wie 1:10 anzunehmen. Die Sitze müssen mit Rücklehnen und verschließbaren Schreibpulten versehen, sowie bequem zugänglich sein. Zwischen je zwei radialen Gängen dürfen sich nicht mehr als 4 Sitze in einer Reihe befinden. Für jeden Sitzplatz mit Pult ist ein Raum von 1,10 m Tiefe und 0,55-0,65 m Breite zu rechnen." Es kam also darauf an, daß die Abgeordneten "in ungestörter Weise" ein- bzw. austreten konnten.
In der kurzen Phase zwischen dem Reichstagsbeschluß und der Wettbewerbsauslobung hatte sich in Architektenkreisen, aber auch in sehr großen Teilen der politischen Presse eine hitzige Diskussion darüber entfaltet, ob der Architekt, der im ersten Wettbewerb gewonnen hatte, Bohnstedt, erneut und ohne Konkurrenz beauftragt werden sollte, seinen Plan umzuarbeiten und zur Ausführung zu bringen, oder ob ein neuer beschränkter oder offener Wettbewerb ausgeschrieben werden sollte. Auf Betreiben des Berliner Architektenvereins wurde dann ein offener Wettbewerb ausgeschrieben, allerdings nur für Architekten "deutscher Zunge", sowie diejenigen ausländischen Architekten, die beim Wettbewerb 1872 einen Preis gewonnen hatten. Da nur ein Ausländer, der Engländer Scott, einen Preis gewonnen hatte und inzwischen verstorben war, gab es keine ausländische Beteiligung.
Die Jury für diesen Wettbewerb stand der des ersten Wettbewerbs kaum nach. Freilich: Einige große Architekten lebten nicht mehr: Lucae und Semper waren 1877 bzw. 1879 gestorben. So liest sich die Liste der Architekten in der Jury wie folgt: Friedrich Adler, Reinhold Persius, Friedrich Schmidt, Gottfried von Neureuther, Josef von Egle, Vinzenz Statz, Martin Haller und der Maler Anton von Werner. Da Neureuther kurz vor Zusammentreten der Jury erkrankte, wurde er durch den Münchener Baurat Siebert vertreten.
An dieser Konkurrenz beteiligten sich nun 189 Architekten und Architektengemeinschaften. Da alle Entwürfe unter Motto - also anonym - eingeliefert werden mußten und keine vollständige Aufschlüsselung der Namen zu finden war, ist es heute nicht möglich, die Namen aller Teilnehmer zu ermitteln. Aus dem Briefwechsel der beiden Sieger des Wettbewerbs ist die Schwierigkeit ersichtlich, ein Gebäude, für das es in Deutschland kaum Vorbilder gab und über dessen Funktionen und künftiges Funktionieren nur vage Vorstellungen bestanden, zu entwerfen. Sie arbeiteten buchstäblich bis zur letzten Sekunde. Die Entwürfe des Architekten Paul Wallot aus Frankfurt am Main wurden "noch warm eingepackt" zur Bahnspedition gebracht, so daß nicht einmal Zeit zum Fotografieren der Pläne blieb.
Aus den Protokollen der Jury geht hervor, daß der Entwurf von Wallot ("Für Staat und Stadt") 19 von 21 Stimmen auf sich vereinigen konnte. Wallots Sieg wurde in Architektenkreisen als "Überschreitung der Mainlinie in der Baukunst" gefeiert.
Am 9. Juni 1884 wurde der Grundstein für das Reichstagsgebäude gelegt. Drei Generationen preußischer Monarchen, Wilhelm I,. sein Sohn und späterer Kaiser Friedrich III., sowie sein Enkel und nachmaliger Kaiser Wilhelm II. taten ihre Hammerschläge an diesem vom Wetter nicht besonders begünstigten Tag. Es wurde moniert, daß viel zu viel Militär und kaum Parlamentarier an dieser Zeremonie teilgenommen hatten.
Nachdem er mehrere Versuche der Nachverhandlung mit dem alten Kaiser und dann seinen Nachfolgern gemacht hatte, wurde ihm schließlich die Verlegung der Kuppel erlaubt, wenn er den Nachweis erbringen könnte, daß die Ausführung möglich sei. Das Hauptproblem bestand darin, daß der Bau zu diesem Zeitpunkt ziemlich weit fortgeschritten war und für eine Kuppel an anderer Stelle die Wände nicht standfest genug erschienen. Es galt daher, "mit möglichst geringen Kosten und ohne Störung des Baubetriebes einen allen auftretenden Kräften gewachsenen Unterbau nachträglich herzustellen." Es scheinen mehrere Berechnungsversuche gemacht worden zu sein, sämtlich ohne Erfolg, bis Wallot 1889 den Ingenieur Zimmermann mit der Berechnung betraute. Zimmermann machte die vorgesehen Kuppel leichter, in dem er Glas und Stahl einsetzte und die Dimensionen besonders die Höhe von ursprünglich 85 m auf 74,16 m reduzierte.
In Verbindung mit der Kuppel gibt es die hartnäckige Legende, daß Wilhelm II. die Kuppel nur genehmigte, weil sie kleiner als die des Schlosses werden sollte. In den Akten findet dies keine ausdrückliche Bestätigung; dennoch erlauben Indizien einen ähnlichen Schluß. Zum einen ist die Kuppel höher ausgefallen als die des Schlosses: bis zur Kuppelspitze des Reichstags sind es 74,16 m, bis zur Spitze der Schloßkuppel nur 67 m. Und Wilhelm II. hat ein halbes Jahr nach Einweihung der Kuppel im April 1893 das Reichstagsgebäude in Berlin als "Gipfel der Geschmacklosigkeit" verurteilt. Außerdem gibt es eine Marginalie von ihm, in der die Höhe der Kuppel mit 69,5 m errechnet wird; die Vorlage bezeichnete den untersten Punkt als das Hauptgeschoß, und dieser war nun fast fünf Meter über Straßenniveau.
Daß Wilhelm II. diese Kuppel haßte, ist Grund genug zur Aussage, die Kuppel sei nicht wilhelminisch. Wahrscheinlich verachtete er sie, nicht nur, weil sie zu hoch ausgefallen war, sondern wegen des Symbolgehalts: Parlament! Die Kuppel war nicht bombastisch, sondern sehr zurückhaltend im Charakter. Schließlich war die Kuppel Wallots Verbeugung vor der Kunst des Ingenieurs; bei seiner Ehrung in der Kroll-Oper am 7. Dezember 1894 antwortete Wallot auf Anton von Werners Verherrlichung der "drei Schwesterkünste" Malerei, Architektur und Bildhauerei mit der Hinzuzfügung der "Ingenieurskunst": Eine Dampfmaschine ist für mich insofern das höchste Kunsterzeugniß als der Zweck und die Mittel in einem richtigen Verhältniß zueinander stehen und wenn ich ein Zusammenwirken aller Künste erstrebe, so schließe ich die Ingenieurskunst mit ein. Ich trinke auf die Verschmelzung aller dieser vier Künste, auf ihre Einheit!".
Ab 1891 konnte Wallot sich auch dem Programm der Innenräume widmen. Hierfür waren nicht nur Plastiken, sondern auch Wand- und Deckenbilder erforderlich. Dabei wurde wieder das Prinzip der Streuung unter den verschiedenen Schulen Deutschlands zur Regel erhoben. So hatte er für einige Räume einen beschränkten Wettbewerb ausgeschrieben, an dem Künstler wie Franz Stuck und Eugen Bracht teilnahmen. Er versuchte auch, ein Skulpturenprogramm mit deutschen "Geistesgrößen" für die Nordeingangshalle in der Reichstagsbaukommission durchzusetzen, was ihm aber wegen mangelnden konfessionellen Proporzes nicht gelungen ist: Weil am Entscheidungstag zu viele Katholiken in dieser Kommission waren, wurde sogar Luther aus dem Programm entfernt. Daraufhin sah der Hugenottennachfahre Wallot keinen Sinn mehr in einer solchen Reihe.
Ab etwa 1892 änderte Wilhelm II. seine anfangs positive Meinung über das Reichstagsgebäude, sei es unter dem Einfluß von Reinhold Begas oder aber weil ihm der Karlsruher Maler Ferdinand Keller Gerüchte über Wallot zuflüsterte. Wilhelms Worte vom "Gipfel der Geschmacklosigkeit" wurden schließlich zum öffentlichen Skandal. Die Künstler Deutschlands solidarisierten sich nun mit Wallot, veranstalteten Demonstrationen und Fackelzüge und antworteten dem "kaiserlichen Gassenbuben" mit Ehrenmitgliedschaften Wallots in vielen künstlerischen Vereinigungen. Als ihm Wilhelm II. 1894 eine Goldmedaille, die Wallot nach einstimmiger Entscheidung der Jury in der Großen Berliner Kunstausstellung zustand, aberkannte und ihm gleichzeitig anläßlich der Schlußsteinlegung den bekannten "Künstlerorden" den Roten Adler Orden verweigerte, hatte Wallot bereits eine Professur in Dresden angenommen.