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Rüdiger Bubner

Symbolische Politik und praktische Urteilskraft

Reichstag April 1995
Foto: Jürgen Specht

Im Zuge der Ästhetisierung der Lebenswelt bekommen wir es zu tun mit einem Anwachsen des symbolischen Sektors in der Politik. Die Ästhetisierung versetzt tendenziell den Ernstfall ins Spielerische. Das gelebte Leben erscheint wie eine nie ganz verbindliche Möglichkeit, wie ein Experiment, das man auch rückgängig machen kann, eine Hypothese, die man einfach nur ausprobieren möchte. Die modernen Lebensweisen der Einzelnen liefern dafür Beispiele in Fülle. Aber auch die weithin akzeptierte Verfassung der heutigen Gesellschaft bietet Indikatoren jener Ästhetisierung. Wo nichts wirklich und vollständig so gemeint ist, wie es aussieht, regiert die ironische Brechung. Die Einstellungsveränderung scheint das schillersche Diktum umkehren zu wollen, das zum Hausschatz seriöser Bürgergesinnung geworden war: Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst! Die Kunst der Moderne hatte immer propagiert, daß sie ins Leben geradewegs eingreifen und dieses auf unvorhergesehene Weise bereichern und verändern wolle. Die Frühromantik schlug das Motiv schon vor ziemlich genau zweihundert Jahren an. Man kann Glänzendes dazu bei Friedrich Schlegel lesen. Die Avantgarden, die der Bewegung der ästhetischen Moderne ihr Tempo aufgeprägt haben und bis heute aufprägen, lassen sich zusammenfassen als Sequenz von Versuchen, das Programm der Vereinigung von Kunst und Leben einfallsreich umzusetzen. Einer überbietet den andern nicht im Thema, sondern in Geschick und Findigkeit, neue Felder der Applikation aufzutun.

Diese langwährenden Attacken auf den Bierernst des Alltags sind nicht erfolglos geblieben. Die Ästhetisierung der Lebenswelt darf unter anderem als Resultat jener Bemühungen angesehen werden. Von der einsam kämpfenden Elite vorwärtsdrängender Künstler, denen Normalmenschen fremd oder feindlich gegenüber stehen, gehen die Dinge über zur medial verstärkten Massenresonanz.

Neuerdings greift der Prozeß auf politische Symbolik über. Symbole hat es in der Politik immer gegeben. Das gehört zu ihrem Wesen, weil sie nicht nur aus Handeln, sondern auch aus Darstellern besteht. Darstellung erfolgt vor Publikum, den eigenen Staatsbürgern, sozialen Gruppen, Parteianhängern, Schichten potentieller Wähler usw. Aber auch vor Fremden, Nachbarn, den Völkern jenseits der Grenzen und vor der internationalen Öffentlichkeit schlechthin werden politische Symbole vorgeführt. Wenn Symbole Darstellung betreiben, so muß es etwas geben, das dargestellt wird. Dabei ist zweitrangig, wie das Verhältnis von Dargestelltem und Darstellung in der Realität aussieht. Nicht die Angemessenheit an die Wirklichkeit gilt als Parole, sondern der erfolgreiche Schein.

Dargestellt werden Macht und Sieg, Wohlstand und Stilüberlegenheit, aber ebenso auch Niederlagen und Zerknirschung, Scheitern der Arroganz, bescheidener Verzicht auf Selbstüberschätzung und immer wieder weit auslegbare gute Gesinnungen, wie Friedensliebe, Kooperationswille, Freundschaft unter Gleichen. Ob der Sieger wirklich siegte oder sich den wahren Siegern im letzten Moment bloß anschloß, ob die Demonstration von Macht eher Schwäche verhüllt, ob die Opferrolle von wirklich Verfolgten gespielt wird, ob der sich bescheiden Gebende Zurückhaltung auch üben wird - dies alles sind Fragen, die sich dem kritischen Beobachter stellen müssen. Dazu ist gerade in diesen Jahren einer Verschiebung der Weltgewichte genug Anlaß. Denn die Auflösung lang gewohnter und festgezurrter Strukturen eröffnet Chancen und Übergänge, deren Resultat niemand ab sieht. Über reale Unsicherheiten helfen manchmal symbolische Gesten hinweg. Das entspricht einer pragmatischen Notwendigkeit, da plausible Verständigung unter Zeitnot nach Kürzeln verlangt, während das Ausbuchstabieren komplexerer Relationen mehr Zeit der Reifung und des differenzierten Verstehens fordert.

Jedenfalls sollten wir uns darüber einig sein, daß in der Flut konventioneller Symbolik auf den Feldern der Politik wenig für bare Münze zu nehmen ist. Ideologiekritiker, die hinter jeder Geste, jedem Handschlag und Fahnenhissen finstere, weil das Licht scheuende Interessen vermuten, um mit aufklärerischer Entschlossenheit zur Entlarvung zu schreiten, dürften mannhaft ins Leere laufen. Symbole dienen eben dem Zweck, etwas zu symbolisieren, dessen exakte Bestimmung unterbleibt, weil sie der variablen Ausdeutung des Publikums überlassen wird. Hier arbeitet die traditionelle Urteilskraft, die wir in der symbolsüchtigen Moderne unverändert benötigen. Denn nur sie vermag uns einen Weg durch all die verheißungsvollen Phänomene zu weisen. Was gültig und glaubhaft, nur halb zu glauben, ungläubig und dennoch erfreut zur Kenntnis zu nehmen ist, und was tiefe Skepsis oder Abscheu verdient

- das kann man nur gemeinsam in der Praxis lernen, angeleitet durch historische Erfahrung.

Wie aber steht es mit Symbolen, die keiner Urteilskraft etwas zu sagen haben, weil sie auf gar nichts verweisen? Man stelle sich vor, es bekommt jemand die Erlaubnis, den Eiffelturm in einen pinkfarbenen Lichtdom zu tauchen. Was bedeutet das für die Pariser, was für die Franzosen und die ungezählte Schar der Touristen? Nach den Motiven des Verantwortlichen wird man suchen müssen, falls aus dem Symbol als solchem nichts ablesbar wird. Nun erfährt man, daß es sich nicht um eine Werbeagentur handelt, die im Auftrag einer Partei tätig wird, welche jene besondere Farbe zu ihrem Zeichen erkoren hat. Auch war kein sittenstrenger Katholik aus der französischen Provinz am Werke, der etwa auf zweifelhafte Moral des Pariser Nachtlebens mahnend hinweisen wollte. Nehmen wir an, es ist ein international operierender Brasilianer mit Wohnsitz in Tokio, der hinter dem Auftritt steht. Was habe ich jetzt besser begriffen, wenn die naheliegenden Kontexte sich im kosmopolitischen Allgemeinen einer global vernetzten Kommunikationsgesellschaft verlieren?

Ob jemand den Kreml mit Fett bestreicht, ein anderer den Ayers Rock im Herzen des australischen Kontinents unter Watte vergräbt oder schließlich jemand eine Legion Mäuse auf die Golden Gate Brücke hetzt - dem Einfallsreichtum der Aktivisten, dem eventuellen Engagement von Sponsoren und dem Handel mit Exklusivrechten unter Fernsehsendern sind keine Grenzen gesetzt. Wer aber berät das wohlmeinend verwirrte Publikum, für das allein diese Inszenierungen geschehen und vor dessen Augen sich doch alles abspielt? Man wird es mit Rhetorik abspeisen.

In den Normalfällen weiß der Bürger gut genug, womit er es zu tun hat, um seine Urteilskraft zu schärfen, die den echten Gehalt vom dramatisierten Überschuß zu trennen versteht. Aber jetzt wird er vollends den Sirenenklängen der Animateure und der redseligen Kommentatoren ausgesetzt. Im russischen Beispiel etwa könnten Versorgungsnöte unter Stalin zur Sprache kommen, aber ebensogut der falsche Reichtum der neuen Mafia; im australischen Beispiel die Schonung der Natur oder die Geheimnisse der Ureinwohner; und für das kalifornische Exempel würde sich eine zivilisationskritische Katastrophenbeschwörung als Hinweis schon finden.

In Wahrheit wird in diesen Symbolen aber nichts symbolisiert, das als Bezugspunkt einleuchtet, weil es nicht durch beliebige Alternativen von ähnlicher Pauschalität ersetzbar wäre. Die Symbole dieser neuen Art verweisen auf nichts als sich selbst. Sie sind Akte, die sich als Akte öffentlich zur Darstellung bringen. Damit schlägt das ästhetische Prinzip mitten in die politische Sphäre ein. Denn Veranstaltungen dieser Größenordnung gehören nicht mehr in Museen oder Galerien. Sie würden gar nicht hineinpassen und sind auch für Kunstreservate nicht gedacht. Sie sind geradewegs Schritte zur Ästhetisierung der Lebenswelt. Als solche muß man sie erkennen.

Zwar gibt es genügend appellative Begleitrhetorik mit vagen Hinweisen auf allerlei zustimmungsfähige Gehalte, die ins grelle Licht gerückt werden. Aber denen ist nicht über den Weg zu trauen. Die Rhetorik füllt nur das Vakuum und verdient allein den Kredit, im Mediengedröhn noch Aufmerksamkeit zu wecken.

Glocken werden geläutet und Posaunen geblasen. Aber weder brennt es, noch gibt es Anlaß zu feiern. Im trüben Einerlei der permanenten Übertreibungen sucht sich ein Effekt hervorzutun, indem er so auffällig in Szene tritt, daß jeder letztlich darüber stolpert. Für ein benennbares Publikum wird nichts Spezifisches von politischer Bedeutung dargestellt, sondern Beliebigkeiten richten sich an jedermann. Immerhin bleibt demjenigen, der an der geeigneten Hermeneutik für den zunehmenden Symbolaktivismus in der ästhetisierten Lebenswelt verzweifelt, noch immer der Ausweg befreienden Gelächters.


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