hide random home http://www.ix.de/ix/raven/Web/9505/ProjGutenberg.html (Einblicke ins Internet, 10/1995)

Aufmacherphoto Project Gutenberg Project Gutenberg et al.

Literarische Texte digitalisiert

Erweiterte Web-Version zu iX 5/95, S. 130 ff.

Für den Überblick: iX-TRACT
Letzte Modifikation: 12. Mai 1995, 13:10 Uhr

Die Web-Version dieses Artikels ist gegenüber der in iX veröffentlichten Fassung deutlich erweitert. Wann die letzte Veränderung stattgefunden hat, ist am Anfang des Dokuments zu erkennen.


Inhalt
Diderots Traum (der Artikelanfang)
Vanilla ASCII: so einfach, wie es geht
Nachrichten von Gutenbergs Erben
HTML noch in der Minderheit
Copyright zwischen Urbana-Champaign und Bern
Hier & jetzt (moderne Literatur)
Literaturhinweise
Pointer in die weite Welt
Autor(inn)en
Bücher
Etext-Projekte
Generelle Verweise (Copyright & cetera)
Zeitgenössische Literatur
Philosophie
Science Fiction
Literatur-Newsgruppen

Diderots Traum

Henning Behme

Erst durchs World Wide Web wird manches, das seit geraumer Zeit im Internet existiert, richtig schön. Auf klassische Texte wie Lewis Carrolls Alice in Wonderland, die das Project Gutenberg elektronisch zur Verfügung stellt, kann weltweit jeder zugreifen. Ein Archiv fürs 21. Jahrhundert.

Wenn das Internet momentan Sinn hat, dann zunächst natürlich den, sich mit Kolleg(inn)en über EMail zu verständigen. Vor allem für die Teilmenge des Internet, die World Wide Web heißt, gilt aber auch, daß sie ein einziges riesig-verteiltes Archiv für alle wichtigen sowie weniger wichtigen Interessengebiete bildet und literarische Schätze sowie politische Dokumente frei Bildschirm liefert. Diderot und d'Alembert, die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts, hätten daran wahrscheinlich ihre helle Freude.

Project Gutenberg, Projekt Runeberg und andere Initiativen zur elektronischen Sammlung von Texten arbeiten zum Teil seit vielen Jahren daran, Romane und Sachtexte elektronisch zur Verfügung zu stellen. Aber Lesen am Bildschirm ist sicherlich nicht jedermenschs Sache. Auf die Dauer tränen die Augen, ermüdet der die Cursortaste belastende Finger. Die weltweite Verfügbarkeit eines wissenschaftlichen, politischen oder literarischen Textes, auf den per Internet Kommunizierende/Arbeitende sich stützen können, stellt lediglich die gemeinsame Referenz dar, auf die sich alle beziehen können.

Angefangen hat die Geschichte der Online-Literatur spätestens 1971, als Michael Hart an der Universität von Illinois die Gelegenheit bekam, für 100 000 000 Dollar Rechenzeit zu verbrauchen. Das beste, das ihm einfiel, war, die Unabhängigkeitserklärung von 1776 einzutippen -- nachzulesen in [1]. Diese erste Tippaktion war der Anfang des Project Gutenberg, dessen Mitarbeiter seitdem etliche klassische Texte eingetippt oder gescannt sowie korrekturgelesen haben.

Vanilla ASCII: so einfach, wie es geht

Zwei Voraussetzungen stellen gleichsam die Philosophie des von Hart in der Folgezeit ins Leben gerufenen Projekts dar. Die elektronischen Texte mußten so einfach wie möglich sein (im Sinne der maschinellen Repräsentation). Und: Jeglicher Vorschlag, der auf weniger leichte Lesbarkeit hinausläuft, sei, so Hart damals wie heute, nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

Da gab es nur eins, sowohl für Hart als auch fürs ganze Projekt: 127 Zeichen ASCII-Code. Keine Umlaute, kein Cedille, kein '­'. Wo Autoren durch Fettdruck, kursiv gesetzte Satzteile oder ähnliche Heraushebungen Text markiert hatten, sind die entsprechenden Stellen elektronisch immer nur versal. Aufgrund des historischen Ursprungs sind die Texte des ( US-)Projekts durchweg englisch, wenn auch gelegentlich Übersetzungen aus anderen Sprachen darunter sind.


Bild (nicht URL): Home Page des Project Gutenberg


Wer genau wissen will, was es mittlerweile als Etext -- der gebräuchliche Ausdruck für elektronische Literatur -- gibt, kann sich diese Information von der Universität Illinois in Urbana-Champaign besorgen oder, eine wesentlich komfortablere Form, am CERN beziehungsweise in Dortmund den von Frederick G. M. Roeber zusammengestellten HTML-Überblick einsehen. Letzterer reicht bis zum Juli 1994 und verweist jeweils auf den konkreten Aufbewahrungsort des Textes an der Universität von Illinois. Ein Mausklick holt den ausgewählten Text von dort.

Nachrichten von Gutenbergs Erben

Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, die Nachrichten der Newsgruppe bit.listserv.gutnberg zu verfolgen. Die Gruppe dürfte aber nicht auf jedem News-Host vertreten sein. Schließlich gibt es außerhalb des Projekts Gutenberg andere, die sich die Beschränkungen von Michael Hart nicht auferlegen und beispielsweise HTML (Hypertext Markup Language), die Sprache des World Wide Web, verwenden wollten (siehe unten).

Angesichts der Dominanz der englischen Sprache im World Wide Web ist es nicht verwunderlich, daß die Werke britischer, irischer und US-amerikanischer Provenienz den Großteil des elektronisch vorhandenen Materials bilden. Ebenso selbstverständlich ist es, daß beispielsweise die Franzosen ebendies nicht ohne weiteres hingenommen haben; die Association des Bibliophiles Universel hält nicht nur Texte des Projekts Gutenberg vor, sondern will auch französischsprachige Werke, die keinerlei Copyright mehr schützt, elektronisch bereitstellen. In Skandinavien sorgt das Projekt Runeberg für das elektronische Überleben nordischen Kulturguts.


Eingangsseite der deutschen Sektion des Project Gutenberg, die neben Märchen auch das Kommunistische Manifest elektrifiziert hat.

Mausklick fürs Detail ...


Bisher nur einen Teil von Grimms, Bechsteins, Andersens und schwäbischen (Volks-)Märchen hat die an der Hamburger Universität beheimatete deutsche Sektion des Projekts Gutenberg aufbereitet. Gunter Hille, der das Projekt in der Bundesrepublik leitet, hat gerade seine Texte von einem PC auf den Web-Server des Informatik- Fachbereichs gespielt, so daß die teilweise extremen Ladezeiten sich deutlich verringern dürften.

Von den dem Web inhärenten Hypertext-Möglichkeiten träumenden Lesern, die die ideale kritische Ausgabe ihres Lieblingsautors suchen, werden die meisten enttäuscht sein. Denn überwiegend sind die Texte in schlichtem ASCII gehalten: schmuck- und anmerkungslos.

Ausnahmen bestätigen diese Feststellung. An der Princeton-Universität arbeitet das Department of Romance Languages an einem Multimedia-Archiv zu Chrétien de Troyes' mittelalterlichem Le Chevalier de la Charrette (Lancelot). Und die Royal Irish Academy stellt mit der University of Cork alte irische Texte zusammen -- die dazugehörige Datenbank ist allerdings autorisierten Benutzern vorbehalten.

Die von H. Church an der Universität von Texas betreute Home Page Jane Austens, einer englischen Romanschriftstellerin des 19. Jahrhunderts, beinhaltet eine Hypertext-Version von Pride and Prejudice, einem vor allem in Großbritannien und Nordamerika noch heute vielgelesenen Roman, die weit über den einfachen Text hinausgeht. Church hat den Text mit fünf verschiedenen Indizes wie Personen oder Geschehnissen ver-webt.

HTML noch in der Minderheit

Aus deutscher Forschersicht interessanter -- wenn auch nicht unbedingt für Informatiker und Computerspezialisten -- ist vielleicht das ebenfalls in den USA beheimatete Projekt, die Werke der Karoline von Günder(r)ode kommentiert herauszugeben. Chris Campbell versteht die Arbeit daran als Teil des Kassandra-Projekts, das sich im Web mit visionären deutschen Frauen um 1800 beschäftigt respektive deren Arbeit öffentlichmacht.

Zu den aus Sicht des nach Hypertext Suchenden besseren Autorenseiten gehört natürlich die zu Shakespeare. Ausgehend von Entrance to the Shakespeare Web ist die erste Web-Edition eines Stückes -- Twelfth Night -- seit Januar fertig. Aber auch die Seite zum amerikanischen Autor Edgar Allan Poe lohnt sich, natürlich nur für diejenigen, die sich für sein Werk interessieren, denn dort ist das Gesamtwerk versammelt. Allerdings nicht in Hypertext.

Auch die Schöpfer der Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts (Diderot und d'Alembert), die zum ersten Mal verstreutes Wissen für jedermann und -frau verfügbar machte (allerdings nur diejenigen, die lesen gelernt hatten), kommen zu Ehren. An der Universität von Chicago besteht ein Projekt, das die gesamte Enzyklopädie fürs Web aufbereiten will. Versuche mit circa 250 Einträgen sind bereits möglich. Im Zeitalter von Multimedia kann es nicht ausbleiben, daß selbst hartgesottene ASCII-Anhänger wie Michael Hart überlegen, auch anderes als mageren Text bereitzustellen. Auf dem Server des Project Gutenberg ist mit Beethovens fünfter Symphonie auch musikalisch etas zu holen -- als MIDI-Datei.

Was es über die hier naturgemäß nur ansatzweise auftauchenden Hypertext-Seiten hinaus im Web zum Thema Literatur gibt, ist dort leichter und sinnvoller nachzuvollziehen. Deshalb enthält diese Web-Seite deutlich mehr Verweise, als im Artikel selbst versammelt sind.

Bleibt die Frage nach dem Sinn des Webens. Auch ein riesig- verteiltes Archiv hat nur Sinn, wenn Menschen es benutzen. Im Falle literarischer Texte kann das zweierlei sein: Lektüre und mehr oder wissenschaftliches Arbeiten. Sammelleidenschaft ist hier nicht gemeint. Zum Lesen sind die elektronischen Texte nur bedingt geeignet, zumal sie jeder Leser auf den Drucker leiten muß, was den Papierverbrauch sicherlich nicht reduziert. Denn niemand wird ernsthaft einen 500-Seiten- Roman online lesen wollen. Insofern dürften elektronische Buchausgaben jedenfalls nicht zum Tod der Literatur beitragen. Kritische Werkausgaben machten wesentlich mehr Sinn. Und die Seiten zu Austen, Shakespeare, Poe und Günder(r)ode zeigen ansatzweise, daß das Web Raum bietet, weltweit Texte und ihre Interpretationen zu diskutieren. Erst dann, wenn Textstellen Verweise auf Sekundärliteratur als Link enthalten und vor allem konkrete Hinweise (anchors) auf eine Diskussion bieten (wer was zu diesen oder jenen Zeilen des Hamlet zu sagen gehabt hat), ist mit dem Medium in dieser Hinsicht wirklich etwas anzufangen.

Einen Anfang in anderer Richtung hat das Project Gutenberg dazu gemacht, indem auf dessen Server auch die International Philosophical Preprint Exchange (IPPE -- auf dem FTP-Server des Projekts oder direkt bei http://phil-preprints.L.chibau.ac.jp/IPPE.html) residieren darf. Philosophische Arbeiten können, wie der Name sagt, hier bereits vor der eigentlichen Papierveröffentlichung elektronisch öffentlichgemacht (und diskutiert) werden.

Was sich im Etext-Bereich vor allem in den USA entwickelt hat, steckt in der Bundesrepublik noch in den Kinderschuhen. Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt/Main soll erst im Laufe des Jahres einen WWW-Server erhalten. In Marbach (Neckar) hat das Deutsche Literaturarchiv den seinen im Mai ins Netz gebracht.

Marbach etwa wäre doch der ideale Ort für ein elektronisches Archiv. Die Deutsche Bibliothek jedenfalls will Etexte sammeln und bei entsprechender Absprache mit Verlagen auch anbieten. Alles eine Frage der Zeit. (hb)

Literaturhinweise


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