Aus "Der Spiegel" 12/1994, S. 240-241, 21.3.94
Im Spiegel-Inhaltsverzeichnis:
Datennetz: Suchprogramm fürs Internet ...... 240
Der Artikel erscheint hier mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "Der Spiegel"
Der Weg zu Amerikas "First Cat" führt durch den Computer. Wer das Neueste über "Socks", die gefleckte Katze der US-Präsidentenfamilie Clinton, erfahren will, muß sich ins weltumspannende Datennetz "lnternet" begeben, an das Millionen von Rechnern angeschlossen sind.
Die "Socks"-Anfrage wird zuerst über einen Vermittlungsrechner, sodann über Universitätscomputer in Chicago und North Carolina bis in eine Datenbank in Washington geleitet. Doch der Benutzer muß sich um Anwahlnummern, Dateiformate oder Abfrage-Dialekte für Datenbanken nicht kümmern: Ein Mausklick genügt, um das Katzendossier aus dem Weißen Haus auf den neuesten Stand zu bringen.
Den unkomplizierten Zugang zum wesentlichen und unwesentlichen Wissen der Internet-Welt eröffnet eine spezielle Software, die von dem britischen Computerfachmann Tim Berners-Lee im Europäischen Kernforschungszentrum Cern entwickelt wurde: das ,,World Wide Web" (WWW). Das "weltweite Spinnennetz", in das sich neuerdings auch die Benutzer gewöhnlicher Personalcomputer einklinken können, erleichtert die Navigation durch die Weiten des Rechnerverbunds.
Immer mehr Onliner erkunden inzwischen auf diese Weise das Internet, das als Modell der von der US-Regierung geplanten ,,Datenautobahn" gilt. Hochkonjunktur haben Firmen und Vereine, die privaten Benutzern außerhalb der Universitäten gegen Gebühr einen Zugang zum Internet vermitteln, in Deutschland etwa Eunet in Dortmund, Netmbx in Berlin, Pelikan & Partner oder Hanse e.V. in Hamburg.
Das World Wide Web (Computerjargon: ,,W3') gibt einen Vorgeschmack auf die multimediale Zukunft. So lassen sich über WWW bereits alle im Netz angebotenen Dienste - Text-, Audio- und Videodaten - durch Anklicken von Symbolen und Stichwörtern auf dem Bildschirm abrufen, etwa mit Hilfe der PC-Software "Windows" und der Suchhilfe ("Viewer") "Mosaic", die an US-Universitäten entwickelt wurde und die demnächst als kommerzielles Programm von der US-Firma Spry vermarktet werden soll. Die notwendigen Rechneroperationen laufen verdeckt im Hintergrund ab wie die digitale Vermittlung bei einem Übersee-Telefonat. Auch bei der zukünftigen Datenautobahn soll die Computertechnik gewissermaßen unter der Straßendecke versteckt werden.
Statt Wahltasten wird beim World Wide Web auf dem Bildschirm zunächst ein ,,Einstiegspunkt" aus Text und Grafik angezeigt, der einer Zeitschriftenseite ähnelt. Wenn der Informationssucher in diesem "Hypertext" mit der Computermaus bestimmte Stellen anklickt, sogenannte Hot Links ("heiße Querverweise ") wird er augenblicklich zu weiteren Rechnern durchgestellt.
Wie ein Händler auf dem Börsenparkett, der per Handzeichen Aktienbewegungen am anderen Ende der Welt auslöst, schaltet der ,,Web"-Benutzer zwischen Knotenpunkten in Australien. Russland oder Costa Rica hin und her, häufig ohne zu wissen, mit welchem Erdteil er gerade verbunden ist.
Wahrend sich der Computerbenutzer auf diese Weise durchs weltweite Datengewebe hangelt, wird sein ,,Assoziationspfad" vom Rechner im Hintergrund automatisch mitprotokolliert. So entsteht ein Dokument der Suche, das jederzeit wieder konsultiert und beliebig erweitert werden kann.
Gesponnen wurde das Datengewebe von Berners-Lee, der 1984 als EDV-Berater zum Kernforschungszentrum Cern gekommen war. Die Gemeinschaft der Hochenergie-Physiker, stellte der Computermann damals fest, pflegte "keine hierarchische, sondern eine chaotische Informationsstruktur" - vielfach verzweigt wie das Netz einer Spinne.
Ein Aufsatz des US-Wissenschaftlers Vannevar Bush, der im Zweiten Weltkrieg die amerikanische Regierungsforschung koordiniert hatte, brachte den EDV-Experten auf die Idee zum World Wide Web. Bereits 1945 hatte Bush in der US-Zeitschrift The Atlantic Monthly die überbordende Informationsflut beklagt. Für die Nachkriegszeit schlug er vor, eine Maschine zu bauen, die Informationen suchen und organisieren könnte. "Memex" wie der US-Forscher seinen Apparat nannte, sollte als eine Art "verlängertes Gedächtnis" funktionieren. Die Zukunftsmaschine, so das Konzept, würde bestimmte Assoziationsketten des Benutzers aufzeichnen und automatisch nachvollziehen.
EDV-Mann Berners-Lee übertrug die Idee auf das Internet. Dort verfügt jeder einzelne Rechner über eine individuelle Kennziffer, ähnlich einer Anschlußnummer im internationalen Telefonnetz. Das World Wide Web basiert auf einer speziellen Programmsprache, mit deren Hilfe die Internet-Rechner angesteuert werden - vergleichbar etwa der Steuersoftware eines Telefon-Vermittlungsrechners. Das Ergebnis: Was von US-Vordenker Bush ursprünglich zum Eindämmen der Informationsflut gedacht war, trägt nun im weltweiten Computerverbund dazu bei, daß sie unaufhaltsam weiter ansteigt. Britische Internet-Fans machten sich einen Jux daraus: Abfragen läßt sich dort der per Videokamera festgehaltene Pegelstand der Kaffeemaschine im Computerlabor der Universität Cambridge in England.
WWW-Sitzungen am Bildschirm verlaufen oftmals wie das ziellose Blättern in einem vielbändigen Lexikon: Der Leser schlägt es an einer Stelle auf. folgt dann Querverweisen, nimmt dazu weitere Bände aus dem Regal und hat am Ende womöglich vergessen, welches Stichwort am Anfang seiner Suche stand.
Auch als Einkaufsdienst und Show-Übermittler wird das WWW-System inzwischen benutzt. Videoclips über die Geschichte des Paartanzes liefert beispielsweise die Tango-Schule "Casa Rosada" im schweizerischen Lausanne übers Internet.
Den offenkundigen Unterhaltungswert des grenzüberschreitenden Datendienstes hat auch der Sprecher des Cern im benachbarten Genf schätzengelernt. An verregneten Nachmittagen, erzahlt Neil Calder, schaut er zuweilen im Computer nach, was es im sonnigen Santa Monica (US-Staat Kalifornien) im Kino gibt.