hide random home http://www.bayern.de/Politik/Reden/1995-05-08.html (Einblicke ins Internet, 10/1995)

Rede des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber bei der Feierstunde anläßlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes vom 8. Mai 1945 in Aschaffenburg


Der 8. Mai 1945 ist der Tag, an dem die Menschen wieder auf ein Leben in Frieden hoffen konnten. Der alles vernichtende Krieg hatte zumindest in Europa ein Ende.

Bereits 5 Wochen vor Kriegsende war Aschaffenburg als erste bayerische Stadt von den Amerikanern von der Kriegsfurie befreit worden. Aschaffenburg lag, wie so viele bayerische Städte, in Schutt und Asche! Am 8. Mai schwiegen die Waffen überall in Deutschland. Kanonendonner und Bombennächte waren vorbei. Eine grauenvolle Bilanz tat sich auf. Das ganze Ausmaß der europäischen Katastrophe wurde sichtbar. Wir trauern um alle Menschen, die Opfer dieses Krieges, die Opfer von Gewalt, Diktatur und Terror wurden.

Die Toten auf den Schlachtfeldern, in den Städten und Dörfern und in den Lagern des Nazi-Terrors und des Todes mahnen uns: Auf deutschem Boden darf es nie wieder ein totalitäres und menschenverachtendes Herrschaftssystem geben.

Wir wissen um die deutsche Schuld. Wir verneigen uns daher in Ehrfurcht und in Scham vor den Toten aller Nationen. Wenn wir trauern, dann erinnern wir uns, und wenn wir uns erinnern, dann vergessen, verdrängen und verharmlosen wir nichts.

Der 8. Mai ist der Tag, an dem die Menschen wieder auf ein Leben in Würde hoffen konnten. Ein Terrorregime, das bei der Durchsetzung seiner verbrecherischen Ziele keinerlei Skrupel kannte - auch nicht gegenüber den Deutschen -, eine Diktatur, die Menschenwürde und Menschenrecht so völlig außer Kraft gesetzt hatte, war endlich zu Ende. Es war, wie es die Präambel der Bayerischen Verfassung sagt, "eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen." Niemand war während der NS-Herrschaft sicher vor Willkür und Verfolgung. In den Gefängnissen und Konzentrationslagern litten und starben Menschen wegen ihrer Abstammung oder ihres Glaubens, Gegner des Regimes, Widerstandskämpfer, Angehörige von Minderheiten und Kriegsgefangene. Und spätestens gegen Kriegsende entlarvte sich die ganze Verachtung der NS-Diktatur gegenüber dem eigenen Volk in den Worten Hitlers:

"Wenn der Krieg verlorengeht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil ist es besser, selbst diese Dinge zu zerstören."
Sein Vernichtungswille machte nicht einmal vor dem eigenen Volk halt.

Noch menschenverachtender, entwürdigender und mörderischer verhielt sich das Regime gegenüber den Juden und unseren östlichen Nachbarvölkern. Von Deutschen und im deutschen Namen kam unermeßliches Leid über diese Völker. Sie wurden als Menschen entwürdigt, erniedrigt, verfolgt, gequält und ermordet. Die NS-Herrschaft trug millionenfachen Tod und unsägliches Leid nach Europa.

Am 8. Mai war der Holocaust für das jüdische Volk zu Ende. Er wird immer für tiefsten sittlichen Verfall in der Menschheitsgeschichte stehen. Die Angst vor SS-Terror war von den Völkern Europas und den Deutschen genommen. Millionen von KZ-Häftlingen, ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen waren frei. Schon deshalb war der 8. Mai 1945, wer kann das ernsthaft bestreiten, ein Tag der Befreiung. Spätestens mit diesem Tag wurden die nationalsozialistischen Greueltaten in ihrem ganzen Ausmaß offenbar. Erst der 8. Mai machte deshalb auch die geistige Befreiung vom Nationalsozialismus möglich.

Im Angesicht der unfaßbaren Verbrechen des Dritten Reiches bekennen wir uns zu unserer historischen Verantwortung. Aus ihr kann sich niemand davonstehlen. Es bleibt der entschiedene Appell an uns alle: Kein Vergessen, kein Verfälschen, kein Schlußstrich, keine Wiederholung! Wer sich nicht erinnert, hat keine Zukunft!

Diesen Appell muß vor allem die Kriegsgeneration weitertragen. So schmerzhaft für sie die Erinnerung auch sein mag, nur sie kann aus eigenem Erleben von Leid, Tod, Zerstörung und den Greueln von Krieg und Diktatur berichten. Ich denke gerade auch an die Frauen, die um ihre Männer und Kinder bangten und trauerten, die in schwierigster Zeit ihre Kinder allein aufzogen und oft ums nackte Überleben ringen mußten. Während die Kinder der Kriegsgeneration noch die Bilder der in Trümmern liegenden Städte vor Augen haben, ist für die Generation der Enkel Friede und Sicherheit in unserem Lande eine Selbstverständlichkeit. Damit dies so bleibt, muß das Vermächtnis des 8. Mai von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Der 8. Mai 1945 ist der Tag, an dem die Menschen wieder auf ein Leben in Freiheit hoffen konnten. Im Westen Deutschlands konnte am 8. Mai ein Leben in Frieden, in Würde und in Freiheit beginnen. Diese Chance haben uns die Westalliierten, in Bayern insbesondere die Amerikaner, gegeben. Für ihre Haltung und für ihre Hilfe gebührt ihnen unser Dank. Im Vergleich zum Osten Deutschlands läßt sich das Glück ermessen, das uns im Westen zuteil wurde.

Diesem Glück und der Tatkraft der Männer und Frauen der ersten Stunde verdanken wir den Aufbau des demokratischen und freiheitlichen Westdeutschland. Sie kamen aus allen gesellschaftlichen Schichten und unterschiedlichsten politischen Richtungen, oftmals aus Lagern, Gefängnissen oder dem Exil, sie packten "angesichts des Trümmerfeldes" beherzt an und waren bereit, unter den damaligen schweren Bedingungen Verantwortung zu übernehmen. Sie gaben den Menschen wieder zunehmend Vertrauen in die Demokratie.

Den Deutschen war von Beginn der Gründung der Bundesrepublik Deutschland an auch bewußt, daß mit der Freiheit auch Verpflichtung und Verantwortung korrespondierten. Das demokratische Deutschland wahrte den Anspruch auf Freiheit und Einheit für ganz Deutschland.

Am 8. Mai begann die Freiheit aber nicht für alle Deutschen und nicht für alle Völker in Europa. Wenn ich daran erinnere, will ich nicht Ursache und Wirkung vermischen, nichts aufrechnen und nichts relativieren.

Wir denken an die Millionen Deutschen im Osten des damaligen Deutschland, in Böhmen, in Ungarn und in Südosteuropa sowie in den Weiten Rußlands. Sie wurden vertrieben und deportiert. Sie verloren ihre Heimat. Über 2 Millionen von ihnen kamen ums Leben.

Wir denken auch an die deutschen Kriegsgefangenen, von denen viele erst nach langen und harten Jahren ihre Freiheit erlangten.

Wir denken an unsere Landsleute in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone, wo sich die zweite Diktatur auf deutschem Boden etablierte. Erst 45 Jahre später wurde das Leben in Freiheit für sie Wirklichkeit.

Wir denken an die Völker, die unter ein kommunistisches Herrschaftsregime gezwungen wurden. Vor ihren Augen ging ein nahezu undurchdringlicher Eiserner Vorhang nieder, der sie von den demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklungen im Westen Europas über 40 Jahre lang abschnitt.


Der 8. Mai ist ein Tag, an dem es wie nie zuvor in der Geschichte die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen gab. Freude und Trauer, Hoffnung und Verzweiflung, Befreiung und neue Knechtschaft, Bewahrung und Verlust der Heimat.

Es gab Ende und Neubeginn zugleich.

Diese Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen zeigt sich in den unterschiedlichen persönlichen Erinnerungen und Empfindungen der Erlebnisgeneration. Dieser Tag wurde von den Menschen in München und in Hamburg, in Berlin und in Dresden, in Königsberg und in Breslau nicht in gleicher Weise erlebt. Trotz alledem: Es war zuerst ein Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Es ist dennoch kein Tag des unbeschwerten Feierns, sondern auch ein Tag des Gedenkens an Millionen von Toten. Es ist ebenso der Tag, an dem der Neubeginn möglich wurde.

Deshalb ist der 8. Mai mehr als ein Jahrestag des Kriegsendes. Er ist ein epochales Datum. Er markiert eine historische Wende in der deutschen und europäischen Geschichte.


Der 8. Mai ist stete Mahnung. Er richtet an uns die Frage:

Haben wir aus der deutschen Katastrophe die richtigen Konsequenzen nach innen und außen gezogen, und was bleibt zu tun?

Leitbild unserer Staatsordnung, wie wir sie im Westen Deutschlands aufgebaut haben, und wie sie nun im Vereinten Deutschland gilt, ist die Würde des Menschen. Sie ist unantastbar. Wie konträr steht demgegenüber der Satz der Nazis: "Du bist nichts, dein Volk ist alles."

Staatliche Macht ist nicht schrankenlos wie in nationalsozialistischer oder kommunistischer Einparteiendiktatur, sie ist verfassungsmäßig klar begrenzt. Sie ist aber auch nicht schwach und hilflos wie zu Weimarer Zeiten. Eine Beute extremistischer Kräfte darf die Demokratie in Deutschland nie wieder werden. Deswegen verstehen wir unsere Demokratie als eine abwehrbereite Demokratie, die ihren erklärten Feinden keine Entfaltung ermöglicht. Wenn Verblendete und Unbelehrbare bei uns Anschläge auf jüdische Einrichtungen und Ausländer verüben, dann verurteilen wir das mit aller Schärfe und verfolgen diese Täter unnachsichtig. Extremisten dürfen bei uns nie wieder eine Chance bekommen.

Eine Demokratie lebt von Demokraten, von engagierten und mündigen Bürgern, die bereit sind, für die Demokratie einzutreten und sie zu verteidigen. Uns allen muß stets bewußt sein - und das darf nicht nur bei solchen Gedenktagen beschworen werden -, daß Demokratie tagtäglich gelebt werden muß.

Der 8. Mai ist auch der Tag des Neubeginns für den deutschen Föderalismus. Nicht von ungefähr wurden die Länder von den Nazis rasch zerschlagen. Von den Ländern her wurde der deutsche Staat wieder aufgebaut.

Wenn wir Bilanz ziehen, dürfen wir dem in diesen Tagen oft geäußerten Satz "Wir müssen aus der Geschichte lernen" dankbar den Satz hinzufügen: "Wir haben aus der Geschichte gelernt, wir haben die historische Lektion verstanden". Zwar gab und gibt es - wer wollte dies auch leugnen - trotz der Konfrontation mit den NS-Greueltaten auch Verdrängung von Schuld und einen Mangel an geistiger Aufarbeitung der Vergangenheit. Aber die überwältigende Mehrheit unseres Volkes hat aus der Erfahrung von Weimar, den Erfahrungen des 30. Januar 1933 und des 8. Mai 1945 Konsequenzen gezogen. Wir haben nach dem 8. Mai ein bis heute stabiles demokratisches und rechtsstaatliches Gemeinwesen aufgebaut. Es hat sich in Krisen bewährt, es hat sich, wenn nötig, als reformfähig erwiesen, und es hat seinen Platz im Kreise der alten Demokratien gefunden. Bonn ist nicht Weimar. Berlin wird nicht Weimar werden.

Nach dem 8. Mai 1945 wurden Versäumnisse europäischer Politik zwischen 1918 und 1933 nicht wiederholt. Die Westmächte machten den Weg frei für eine Behandlung Deutschlands, die ihm für die Zukunft die Chance auf Gleichberechtigung, Ausgleich und Versöhnung bot. Wir haben diese Chance genutzt.

Es dauerte für den Westen Deutschlands die angesichts des totalen Zusammenbruchs nur kurze Spanne von zehn Jahren, nach der die Bundesrepublik Deutschland wieder souverän, Mitglied der NATO und wenig später Gründungsmitglied der EWG wurde. Die transatlantische Partnerschaft mit den USA war hierfür die Grundlage. Sie sicherte dem Westen Europas 50 Jahre Frieden.

Diese Adenauersche Außenpolitik war die historisch richtige Antwort auf den 8. Mai. Untrennbarer Bestandteil dieser Politik war die Aussöhnung mit Frankreich. Aus "Erbfeinden" wurden Freunde.

Die Entscheidung für die Westbindung und für Europa war mit die Voraussetzung für die Zustimmung aller Nachbarn zur deutschen Einigung 1990. Mit der Deutschen Einheit und dem Sturz der kommunistischen Regime im östlichen und südöstlichen Europa kehrte das Selbstbestimmungsrecht der Völker, kehrte die Freiheit in den Osten Europas zurück. Die bipolare Welt von Jalta war zerbrochen. Der Polnische Außenminister Bartoszewski sagte in seiner großen Rede im Deutschen Bundestag: "Von der Stunde Null zu reden, hat in Polen erst ab 1989 einen Sinn." Dieses Jahr wurde zum weiteren europäischen Epochenjahr in diesem Jahrhundert. Es kann uns Deutsche mit Dankbarkeit erfüllen. Denn auch durch den Mut unserer Landsleute wurde in Deutschland das befreit, was 1945 in neue Unfreiheit geraten war, das geeint, was 1945 geteilt wurde.

Das Epochenjahr 1989/90 war gewissermaßen die Probe auf die deutsche und europäische Politik seit 1945. Die Europäische Union und die NATO haben sich als stabile Friedensordnungen erwiesen. Ihre Anziehungskraft ist ungebrochen. Das spricht für ihre Güte und Qualität. Deswegen bleibt als stete Aufgabe für uns im Vereinten Deutschland: Sicherung, Bewahrung und Weiterentwicklung der europäischen und transatlantischen Partnerschaft.

Jetzt kommt es darauf an, daß die Staaten der Europäischen Union zusammen mit Kanada und den USA den Staaten Mittel- und Osteuropas die Hand reichen. Gerade angesichts des Kriegsfanals im ehemaligen Jugoslawien müssen wir eine tragfähige gesamteuropäische Friedensordnung finden.

Eine solche Politik verlangt von uns allen Bereitschaft zur Veränderung. Ihr Erfolg ist darum auch davon abhängig, inwieweit jedem Bürger Europas die Geschichte zwischen 1919 und 1933 bewußt ist. Ein Scheitern der jungen Demokratien in Osteuropa muß verhindert werden.

Eindringlich hat der polnische Außenminister Bartoszewski gerade uns Deutsche aufgerufen, den EU- und NATO-Beitritt seines Landes zu fördern. Dieser Appell gilt freilich nicht nur für Polen, sondern auch für alle anderen Reformstaaten. Das darf aber kein Bündnis gegen Rußland werden! Unsere ausgetreckte Hand gilt auch Rußland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Wir haben nicht vergessen, wer 1989 das Fenster der Geschichte aufgestoßen und die europäische Wende ermöglicht hat.

Es bleibt ferner die Aufgabe, die Verständigung mit den östlichen Nachbarn zu vollenden. Bartoszewski mahnte vor einer Woche in Bonn, daß wir möglichst schnell jene Zeit aufholen müßten, die durch den Kalten Krieg und die verwehrte Möglichkeit des Dialogs verloren gegangen ist. Ich stimme ihm hier voll zu. Aussöhnung bedeutet gerade auch, daß diejenigen, die selbst gelitten haben, einander die Hand reichen. Wer selbst gelitten hat, versteht auch das Leid des anderen und weiß um die Notwendigkeit der Versöhnung. Gerade deshalb müssen wir die Betroffenen, die Heimatvertriebenen, in den Verständigungsprozeß einbeziehen; denn erst dann wird es eine ehrliche, aufrichtige und dauerhafte Versöhnung.

Grundlage der Versöhnung ist die Bereitschaft zur historischen Wahrheit und die Anerkennung von Verantwortung.

Lassen wir daher dieses 50. Jahr nach Kriegsende nicht ungenutzt vorübergehen! Nur wer sich erinnert, hat eine Zukunft. Treten wir ein in den Dialog. Räumen wir Hindernisse beiseite und erweisen wir uns so gemeinsam der Verpflichtung gegenüber den Opfern und gegenüber jenen Männern und Frauen würdig, die nach dem 8. Mai 1945 an einem Europa der Verständigung und des Friedens bauten.

Jetzt ist es an uns, dieses Werk zu vollenden. Fügen wir dem Westflügel des Europäischen Hauses den Ostflügel an.

Der Freistaat Bayern als ältester Staat in Deutschland bekennt sich zur gesamten deutschen Geschichte von ihrem Anfang an, zu den dunklen Zeiten ebenso wie zu den hellen. Geschichte geht unaufhörlich weiter, sie kennt keinen Halt, keinen Stillstand, aber sie begründet Verantwortung. Sie hinterläßt Zäsuren, Epocheneinschnitte und Vermächtnisse. Das Vermächtnis des 8. Mai 1945, das Gedenken an die Opfer und das Bekenntnis zur deutschen Verantwortung bedeuten: All unsere Arbeit, all unser Handeln und Tun, ja unser Leben selbst muß gelten

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