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Internet

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DER SPIEGEL 32/1994

Gesetzlos im Cyberspace

Im weltumspannenden Internet, einem chaotisch wuchernden Verbund von Millionen Computern, macht sich der Kommerz breit. Banken und Warenhäuser wollen das Datennetz, das rund 25 Millionen Menschen verbindet, zur profitablen Infobahn ausbauen. Hacker sabotieren das Projekt.

Laurence Canter und Martha Siegel aus Scottsdale im US-Staat Arizona haben neuerdings Feinde auf der ganzen Welt. Die "verschissene Klitsche" der Eheleute, beide Fachanwälte für Einwanderungsrecht, werde "bis auf die Grundmauern niedergebrannt", kündigte ein jugendlicher Hacker an, der seinen Drohbrief über Telefonleitung elektronisch auf den Büro-Computer der Advokaten übermittelte. Und das war erst der Anfang.

Pausenlos rasten, in megabytegroßen Schüben, Schmähbriefe durch die Drähte nach Scottsdale. Ein Empörter wies seinen Computer an, dem Ehepaar tausendmal dieselbe elektronische Botschaft zu schicken. Binnen Stunden war alles verstopft, mehrmals brach sogar der Vermittlungsrechner, über den Canter und Siegel ans Datennetz geschaltet sind, unter der Überlast zusammen.

Anwältin und Anwalt hatten, im Cyber-Land, gegen ein ungeschriebenes, gleichwohl ehernes Gesetz verstoßen. Ihr Computer ist an das weltgrößte Datennetz, das Internet, angeschlossen, das rund 25 Millionen Menschen, darunter Hunderttausende Computerbenutzer in Deutschland, zur internationalen Kommunikation benutzen.

In dem chaotischen Geflecht aus Millionen Rechnern ist, so der Verhaltenskodex ("Netiquette"), jede denkbare Form des Informationsaustausches erlaubt, von wissenschaftlicher Fachsimpelei bis zum pornographischen Rundbrief. Geschäftemacherei aber, so die Übereinkunft der globalen Gemeinde bisher, hat im Netz nichts zu suchen.

Canter und Siegel dagegen hatten sich, schwere Sünde, im Usenet, einem Nebenzweig des Internet mit allein sechs Millionen Teilnehmern, potentiellen US-Einwanderern als Rechtsbeistand empfohlen. Jurist Canter fühlt sich dabei voll im Recht: "Es gibt kein Gesetz dagegen."

Der Anwalt aus Arizona steht nicht allein: Banken, Versandhäuser und Händler aller Art wollen das Internet erobern, ihre Produkte auf jedem angeschlossenen Bildschirm präsentieren, um Millionen Kunden werben - ein gigantisches globales Geschäft.

Ihr Vorteil: Das Internet bildet inzwischen den größten rechtsfreien Raum der Welt. Verträge zur Benutzung, wie etwa beim deutschen Bildschirmtext der Telekom, gibt es nicht. Das Netz, sagt der amerikanische Internet-Experte Clifford Stoll, "kommt echter Anarchie so nahe wie nichts zuvor".

So ist auch der Aufruhr zu erklären, der im Cyber-Land gegen die Eindringlinge losgebrochen ist. Das Internet, das vor einem Vierteljahrhundert als Verbund von Computern des US-Militärs begann, besteht nicht aus einem festen Kabelnetz, sondern aus der verbindenden Idee globaler Kommunikation.

Einklinken kann sich jedes Computersystem, vom Heimrechner bis zum Hochleistungsrechenzentrum. So wird das Datengewebe inzwischen aus Millionen Computern gebildet, deren Betreiber sich auf ein gemeinsames Prinzip geeinigt haben: Ihre Rechner dürfen einander wechselseitig über Telefon-, Datenleitung oder Satellitenverbindung als elektronische Poststation benutzen.

Jeden Monat kommen schätzungsweise weltweit 150 000 Nutzer hinzu. Anreiz für viele: In der größten elektronischen Datenbank der Welt gibt es alle Informationen gratis, der Nutzer muß nur den Zugang zum Netz und die Telefongebühren bezahlen.

Das Wachstum im Internet ...

Weil das weitverzweigte Netz nicht zentral verwaltet wird, ist es seit seinen Anfängen unkontrolliert gewachsen: Wissenschaftler tauschen Forschungsergebnisse aus, die amerikanische Bundespolizei FBI übermittelt Daten, Hacker und Freaks aller Art tummeln sich in ihrem virtuellen Biotop.

Vor allem Studenten nutzen die Computer an ihren Universitäten zu einem weltweiten Kolloquium in allen Fachgebieten. An den Hochschulen, sagt Hans-Werner Meuer, Professor für Informatik an der Universität Mannheim, "hat das Internet bereits größere Bedeutung erlangt als das Telefonnetz".

Nun soll das heimelige Chaos einer profitablen Datenbahn weichen, zunächst auf der amerikanischen Teilstrecke. Kein Wunder, daß der Netzfriede bedroht ist: Frustrierte Internet-Freaks fühlen sich als Heimatvertriebene im Cyberspace und rüsten zu einem Kalten Krieg der Computer.

Elektronisch tausendfach verstärkt, entlädt sich ihr Zorn gegen Geschäftsleute, die den globalen Anschluß als mächtiges Marketing-Instrument einsetzen wollen, und gegen High-Tech-Yuppies, die im Netz schlicht ein neues Statussymbol entdeckt haben. Die rebellierenden Netzwerker, begriff Anwalt Canter, "haben etwas gegen die Invasion dessen, was ihre private Welt gewesen ist".

Der Vormarsch kommerzieller Nutzer ist von Internet-Experten längst erwartet worden. Gunther Maier von der Wirtschaftsuniversität Wien, Koautor des ersten deutschsprachigen Internet-Handbuches, findet es keineswegs verwunderlich, "daß jemand das Internet für kommerzielle Zwecke verwendet". Erstaunlich sei vielmehr, "daß dies nicht öfter vorkommt".

"Nutzen Sie", lautete denn auch das Motto einer mehrtägigen Tagung von US-Managern im kalifornischen San Jose, "das Internet fürs Geschäft." Zügig wird der US-Abschnitt der Datentrasse für den privaten Güterverkehr ausgebaut - Beispiele:

Die neue Popularität verdankt das ehemalige Akademiker-Netzwerk neuen PC-Programmen wie Mosaic, das den Benutzer mit illustrierten Bildschirmseiten, farbigen Symbolen ("Icons") und Querverweisen durch den weltweiten Datendschungel führt.

"Alle wollen aufs Netz", begeistert sich Bob Rieger aus San Jose, dessen Firma Netcom für Firmen und Privatkunden den Internet-Anschluß einrichtet. Überrascht hätten seine Klienten festgestellt: "Das ist ja ein richtiger Markt." Das Internet, malte die größte Tageszeitung des Silicon Valley San Jose Mercury News bereits aus, "könnte bald im Geschäftsleben ähnlich allgegenwärtig sein, wie es Scanner-Kassen und Faxgeräte sind".

In den USA, vielleicht. Aber in Deutschland? Das Internet hat seine eigene Dynamik entwickelt, die Bürokraten schauen ratlos zu. Zwar haben PC-Programme wie Mosaic auch in Deutschland die private Internet-Nachfrage "mächtig angeschoben", sagt Eunet-Chef Axel Pawlik aus Dortmund. Pawlik, der Großkunden wie Siemens und privaten Computernutzern ("Personal Eunet") ans Netz verhilft, erwartet für die kommenden Monate eine "richtige Explosion im deutschen Markt".

Aber die Telekom-Experten in Bonn, kritisiert Pawlik, "sitzen da mit großen, runden Augen und verstehen das Prinzip nicht, nach dem das alles funktioniert". Während Forschungsminister Paul Krüger (CDU) und die Telekom noch über den Ausbau der deutschen Trasse im Datenverkehrssystem streiten, werden wöchentlich von Privatinitiativen neue Streckenabschnitte freigegeben. Beispiel: die "Norddeutsche Datenautobahn", ein Computerverbund von Internet-Rechnern in Kiel, Hamburg, Hannover, Bremen und Oldenburg. "Vom Staat", meint Frank Simon vom Internet-Anbieter Pop Hamburg, "ist nichts zu erwarten."

Der Datenschnellweg wurde von den Online-Firmen Pop Hamburg und Netuse in Kiel eingerichtet. So können PC-Benutzer mit Internet-Anschluß neuerdings durch die aktuelle Ausgabe und das Archiv der Computer Zeitung aus Leinfelden bei Stuttgart klicken oder sich beim Teehändler Frank Franken im holsteinischen Oldenburg über den neuen Darjeeling informieren. Der Hamburger Verlag Gruner + Jahr wird demnächst das Reportagemagazin Geo und den Leserservice der Illustrierten Stern im Internet zugänglich machen.

Die meisten deutschen Manager jedoch beobachten die amerikanische Internet-Mode mit gehöriger Skepsis. Besonders Geschäftsleute, deren Unternehmen nicht angeschlossen sind, betrachten das Internet immer noch als elektronischen Tummelplatz für Hacker, Spinner und Spione.

Potentielle Kunden, berichtet Eunet-Chef Pawlik, "wollen zuerst wissen, wie's denn um die Sicherheit bestellt ist". Anlaß zur Sorge gibt es genug:

Gleichwohl denken Bankmanager in den USA darüber nach, auch interne Finanzgeschäfte übers Internet abzuwickeln. Um den Datenaustausch, zum Beispiel bei Überprüfung von Kreditkarten, abzusichern, werden derzeit neue technische Normen entwickelt. Das Internet sei, meint Daniel Schutzer, Technologie-Manager der US-Bank Citicorp, "sehr vielversprechend".

Weil sich Datensicherheit in dem dezentralen Weltnetz nicht verordnen läßt, behelfen sich kommerzielle Teilnehmer vorerst mit elektronischen Schutzprogrammen. Welche unkalkulierbaren Sicherheitsrisiken das Netz der Netze noch birgt, wurde von einem Hacker demonstriert.

Er nutzte ein Loch im System, um die PR-Offensive des Anwaltspaars Canter und Siegel zu stoppen: Der norwegische Programmierer Arnt Gulbrandsen, 25, entwickelte ein Verfahren, das die beiden Advokaten im Internet mundtot machen sollte.

Sobald eine elektronische Botschaft mit dem Absender von Canter und Siegel auftauchte, feuerte Gulbrandsens Computer postwendend einen kurzen Programmbefehl ab. Damit wurden die entsprechenden Usenet-Rechner angewiesen, die Anwaltspost zu vernichten.

Echte Online-Entrepreneure jedoch lassen sich von solcher Gesetzlosigkeit im Netz nicht abschrecken. Der Patentbehörde in Washington liegen inzwischen stapelweise Anträge von Firmen vor, die das Markenzeichen "Internet", für Geschäftsideen wie "Internet Bank" oder "Internet News", schützen lassen wollen. Das Internet, meint Wirtschaftsanwalt Robert Goldberg aus Washington, habe sich "in ein riesiges Kommerznetz verwandelt, und jetzt geht es um jede Menge Dollar".

Die erste Internet-Anzeigenkampagne hat kürzlich der Sportartikel-Hersteller Reebok angekündigt. So säumen womöglich bald virtuelle Reklametafeln die Infobahn, und Bob Rieger von der US-Firma Netcom hat sein Ziel erreicht: "Wir werden", verkündet er, "auch Tante Molly und Onkel Bill anschließen."

Inzwischen sind, neben einer Fülle von US- Anleitungen, zwei deutschsprachige Handbücher (SPIEGEL 45/1993) erschienen, die über die Verhaltensregeln, die Datenbanken und den Gebrauch der Suchprogramme im Internet informieren:


Netz mit Hummer

Der Anschluß an das Internet wird zum Statussymbol

Jeder Computernutzer kennt das vergurkte Zeichen, das kaum jemand von Hand korrekt aufzeichnen könnte.

Nun breitet sich das Ding, das einen Entwickler an langschwänzige Kletterprimaten erinnerte und seither "Klammeraffe" genannt wird, weltweit auf den Visitenkarten von Yuppies und anderen wichtigen Leuten aus:

Das "@", in Programmiersprachen Kürzel für das englische "at", bildet mit anderen kryptischen Abkürzungen eine Postfachadresse in weltweiten Datennetzen. Wer eine solche Anschrift zur elektronischen Kommunikation im größten Rechnerverbund Internet sein eigen nennt, gilt als Weiser im globalen Dorf.

"Auf dem Netz zu sein", so der Jargon der Szene, ist nicht nur in den USA inzwischen derart chic, daß ein Buch mit den "E-Mail Addresses of the Rich and Famous" (Addison-Wesley Verlag) zum Bestseller wurde. Der Anschluß ans Internet wird nach dem Mobiltelefonieren zur zweiten großen High-Tech-Mode der neunziger Jahre.

Die elektronische Nachricht (E-Mail), die über Telefonleitung oder Satellit von Computer zu Computer geschickt wird, ersetzt inzwischen Millionen Faxe, Briefe, Telefon- und Mobilfunkgespräche. Betrüblich nur, daß der Nutzer seinen Internet-Anschluß, anders als der Mobilfunker sein Handy, nicht öffentlich zur Schau stellen kann.

Abhilfe schaffen in den USA zum Beispiel die deutschstämmigen Computerspezialisten Dirk Harms-Merbitz und Karl Fosburg. Per E-Mail können Internet-User bei ihnen spezielle Rahmen für Autokennzeichen bestellen: Darauf ist, wie beim Firmenwagen der Unternehmer (infodhm.com), die Internet-Kennung eingestanzt.

An besseren Möglichkeiten, den Kult ums Netz öffentlich zu zelebrieren, wird eifrig gearbeitet. In San Francisco zum Beispiel, wo sich die Nähe zum Silicon Valley auswirkt, öffnete jetzt " Icon Byte Bar & Grill", ein Restaurant für Netzsüchtige, die selbst beim Essen nicht auf den Computer verzichten wollen.

Das neue Rasthaus am Rande des Internet-Universums (Netzadresse: Iconbytebar.com) bietet Platz für 75 Gäste. So bleibt die PC-Tastatur am Arbeitsplatz während der Mittagspause von Sandwich-Krümeln und Milkshake-Schmier verschont. Als Lunch-Terminal wird im Restaurant ein Apple-Computer angeboten, dazu empfiehlt die Speisekarte eine "Icon-Gemüseplatte" oder "würzige Cyber-Würstchen".

Am Bildschirmbuffet kann der Gast zum Hauptgericht die persönliche E-Mail verschlingen, beim Kaffee blättert er die Digitalausgabe der kultigen High-Tech-Zeitschrift Wired am Bildschirm durch.

Die benachbarten Restaurants fertigen ihre Gäste im Schnelldurchgang ab; im Cyber-Lokal hingegen geht es, ganz unamerikanisch, gemächlich zu: "Netzjunkies", erzählt Manager Vince Paratore, "kommen rein und bleiben zweieinhalb Stunden sitzen."

Der statusbewußten Kundschaft trägt auch ein Unternehmen in Rockport (US-Staat Massachusetts) Rechnung: Dort können per E-Mail im Internet (Adresse: lobsterseditorial.com) lebende Hummer bestellt werden. Hinweis des Händlers: "Da es sich um wirkliche und nicht um virtuelle Hummer handelt, raten wir zu sofortigem Verzehr."

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Hypertext by Gerd Meissner 1994