hide random home http://hamburg.bda.de:800/bda/int/spiegel/artikel/sp36152.html (Einblicke ins Internet, 10/1995)

SPIEGEL-Gespräch

"Weniger Herz, mehr

Verstand"

Der Historiker Joseph Rovan über die Atomwaffenversuche und die deutsch-französische Partnerschaft

SPIEGEL: Monsieur Rovan, Sie waren 16 Jahre lang Deutscher, ehe Sie Franzose wurden. Ein halbes Jahrhundert haben Sie sich bemüht, die Verständigung zwischen dem Land Ihrer Väter und dem Ihrer Söhne zu vertiefen. Ist die deutsch-französische Freundschaft wirklich über jeden Zweifel erhaben?

Rovan: Ich spreche ungern von Freundschaft und schon gar nicht, wie man es gelegentlich hört, von einer deutsch-französischen Ehe. Ich rede lieber von der notwendigen Konvergenz in der Politik beider Staaten, und die ist eine solche Realität geworden, daß sie aus jeder Krise gestärkt hervorgeht.

SPIEGEL: Also eine Interessengemeinschaft, kein Liebesverhältnis?

Rovan: Sentimentalität hat in den Beziehungen der Nationen nichts verloren, obwohl ich natürlich, wie viele andere Franzosen, gewisse Gefühle gegenüber Deutschland empfinde.

SPIEGEL: Wie kommt es dann, daß nirgendwo in Europa emotionaler gegen die französischen Atombombenversuche protestiert wird als in Deutschland?

Rovan: Ach, die Dänen sind viel heftiger...

SPIEGEL: ... aber sie jucken Paris nicht.

Rovan: Ehrlich gesagt, ich wundere mich, daß die Proteste in der deutschen Bevölkerung nicht noch stärker sind. Vielleicht kommt das ja noch, nach den ersten Explosionen auf Mururoa.

SPIEGEL: Immerhin ist Chiracs Entscheidung - die erste wichtige seiner Amtszeit - auf totales Unverständnis gestoßen.

Rovan: Es hat in den 50 Jahren der deutsch-französischen Beziehungen Momente gegeben, die mir weitaus mehr Sorgen und sogar angst machten. Als Frankreich unter de Gaulle 1966 aus der militärischen Kommandostruktur der Nato ausschied, beschwor der General eine gefährliche Krise herauf. Wenn die Testserie erst einmal vorbei ist, wird der Protestbewegung der Wind aus den Segeln genommen. Denn Chirac hat ja versprochen, daß es nach dem Mai 1996 keine weiteren Versuche geben wird.

SPIEGEL: Hatte Frankreich sich daran gewöhnt, von Deutschland unter Helmut Kohl überhaupt nicht mehr kritisiert zu werden?

Rovan: Das ist übertrieben. Ich erinnere nur daran, wie befremdet die Deutschen über Mitterrands Zögern angesichts der deutschen Wiedervereinigung waren.

SPIEGEL: Aber damals hat niemand französischen Käse und Champagner boykottiert.

Rovan: Eine große Boykottbewegung wie gegen Shell ist bisher nicht entstanden. Wenn es soweit käme, würde sie bei einem beträchtlichen Teil der Franzosen wohl mehr Furcht als Ärger erregen. Auf die australische Kundschaft kann man zur Not verzichten, aber Deutschland ist unser wichtigster Handelspartner.

SPIEGEL: Frankreich, sagte de Gaulle, sei nichts ohne seine Grandeur. Warum fällt es so schwer, sich vom veralteten Traum nationaler Größe zu lösen?

Rovan: In Deutschland überwiegt vielleicht der Eindruck, daß unter dem Präsidenten Jacques Chirac wieder mehr Wert auf nationale Identität und Unabhängigkeit gelegt wird. Zum Teil wird das wieder abklingen. Chirac mußte jetzt erst einmal Rücksicht nehmen auf die etwa 20 Prozent rechtsnationaler Wähler, die ihm im zweiten Wahlgang zum Sieg verholfen haben, und auf seine ähnlich gestimmte gaullistische Gefolgschaft. Die Atomversuche sind auch eine Art Dankesschuld an diese nationalistischen Kräfte.

SPIEGEL: Deutsche Bekenntnisse zu Pazifismus und Ökologie lösen anderswo leicht Irritationen aus. Haben die Franzosen das Gefühl, daß ihnen die Deutschen moralische Überlegenheit vorführen wollen?

Rovan: Diese Strömungen finden ja auch in Frankreich eine gewisse Sympathie, freilich nicht bei den meisten politischen Entscheidungsträgern. Derartige Demonstrationen moralischer Überheblichkeit müssen nicht überall im französischen Volk Mißfallen erregen.

SPIEGEL: Trotzdem wird immer deutlicher, daß Deutsche und Franzosen völlig unterschiedliche Auffassungen von Staat, Nation und Staatsräson haben.

Rovan: Diese Differenzen sind heute nicht ausgeprägter als vor 30 Jahren. Und sie bewegen die Intellektuellen mehr als die Masse des Volkes. Natürlich ist die Bundesrepublik durch ihre föderalistische Struktur besser auf die europäische Zukunft vorbereitet als das zentralistische Frankreich. Ihr Staatsverständnis erschwert es den Regierenden in Paris, wichtige Folgen der europäischen Einigung zu akzeptieren...

SPIEGEL: ... und verleitet sie zu Alleingängen. Helmut Kohl war verärgert, daß Chirac weder ihn noch andere Partner in der Europäischen Union vor dem Testentscheid konsultiert hat. Bleibt da Mißtrauen zurück?

Rovan: Ich bezweifle, daß Kohl wirklich verstimmt war. Ich bin sogar überzeugt, daß Chirac einen Weg gefunden hatte, seinen wichtigsten Partner eben doch vorab zu informieren.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß Chirac das Ausmaß der Empörung über die Testversuche unterschätzt hat, oder suchte er geradezu die Provokation? Bekanntlich gehört es zu den gaullistischen Überzeugungen, daß Frankreich nur der Schatten seiner selbst ist, wenn alle Welt mit ihm übereinstimmt.

Rovan: Für Chirac, der seit 1988 keiner Regierung mehr angehörte und als Pariser Bürgermeister keinen Zugang zu geheimen diplomatischen Informationen hatte, war es sicher nicht leicht, sich die Folgen seiner Entscheidung vorzustellen. Jetzt ist es kaum denkbar, daß er eine radikale Umkehr vollzieht.

SPIEGEL: Francois Mitterrand, der seinen Ex-Premier Chirac gut kennt, hat gespottet, der Präsident wolle mit dem großen Knall nur beweisen, daß er nun der Patron sei.

Rovan: Da die Beziehungen zwischen den beiden Herren nie sehr herzlich waren, ist das ein Spott, den man verstehen kann, ohne in ihn einstimmen zu müssen. Chirac hatte zwingende innenpolitische Gründe: Er mußte jenem Teil seiner politischen Verbündeten, der noch in den nationalstaatlichen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts lebt, jetzt einen Trostpreis geben, vielleicht um ihm später die weitere europäische Entwicklung zumuten zu können. Für diese Leute könnte das böse Ende noch kommen, wenn Paris und Bonn sich auf Fortschritte in Richtung einer bundesstaatlichen Ordnung in Europa einigen.

SPIEGEL: Das ist doch ein seltsamer Machiavellismus: Laßt mich erst Atombomben testen, damit ich später ein guter Europäer sein kann.

Rovan: Chirac könnte sich durchaus so verhalten wie der österreichische Regierungschef Fürst Felix zu Schwarzenberg, der nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1849 an die Adresse seiner russischen Helfer sagte: Wir werden die Welt durch unsere Undankbarkeit in Erstaunen versetzen.

SPIEGEL: Ist der außenpolitische Schaden nicht schon jetzt größer, als es der militärpolitische Nutzen je sein kann?

Rovan: Der Schaden wird wohl nicht von unbeschränkter Dauer sein. Die Wiederaufnahme der Versuche ist aber auch ein Beweis für die Stärke einer gewissen technokratischen Kaste in Frankreich; die Atomlobby bildet geradezu eine eigene Macht im Staat. Aber das wird keine Rolle mehr spielen, wenn in nächster Zeit die Europapolitik wirklich vorangetrieben wird.

SPIEGEL: Welche Funktion hat die atomare Bewaffnung, ein Produkt des Kalten Krieges, jetzt noch für Frankreich? Wer soll abgeschreckt werden?

Rovan: Diese Frage habe ich schon zu Beginn der französischen Atombewaffnung vor 30 Jahren dem damaligen Generalstabschef Ailleret gestellt: Wollt ihr mir weismachen, daß ihr eure Bomben auf Moskau und Leningrad werfen wollt? Da würde Frankreich doch am nächsten Tag nicht mehr existieren.

SPIEGEL: Und was hat er geantwortet?

Rovan: Der General lachte und sagte: Nein, nicht Moskau und Leningrad sind die Ziele, sondern Washington und New York. Das heißt: Die Force de frappe ist eine politische Waffe; das gilt heute wie damals.

SPIEGEL: Wie de Gaulle will Chirac Frankreichs Rang als unabhängige Großmacht sichern. Aber woher kommt die Bedrohung heute?

Rovan: Wenn morgen eine islamistische Regierung in Algerien die Macht ergreift und sich von China mit Atomraketen ausrüsten läßt - so wie Chruschtschow Atomwaffen in Kuba stationierte -, was machen wir dann? Nur auf amerikanischen Schutz vertrauen?

SPIEGEL: Da entwerfen Sie ein abenteuerliches Szenario...

Rovan: ... aber kein absurdes. Chinesen und Islamisten könnten zeitweilig durchaus ein gemeinsames Interesse haben, den Westen zu schwächen. Der Entschluß, eine neue Generation von Atomwaffen auf Mururoa zu testen, entspringt einer Logik, die heute zum Teil überholt sein mag, aber nicht ganz hinfällig geworden ist. Für Europa ist es sinnvoll, nukleare Waffen zu besitzen, die nicht von Washington abhängen. Ein Teil der Bedrohung aus dem Kalten Krieg besteht weiter, und neue kommen auf uns zu, deren Ausmaß wir noch nicht überblicken können.

SPIEGEL: Premierminister Alain Jupp‚ und Außenminister Herv‚ de Charette lassen plötzlich erkennen, die geheiligte nationale Atomstreitmacht könnte europäisiert werden. Ist das glaubwürdig oder ein Beschwichtigungsmanöver?

Rovan: So neu ist das nicht. Schon vor Beginn der Fünften Republik gab es zwischen der Bundesrepublik, deren Verteidigungsminister damals Franz Josef Strauß war, und Frankreich Verhandlungen über eine finanzielle Beteiligung Deutschlands am Bau einer französischen Atomwaffe.

SPIEGEL: Wer zahlt, möchte auch mitbestimmen.

Rovan: Genau. Die französische Regierung müßte dann auch sagen, welche Mitentscheidungsrechte sie Deutschland zugestehen würde. Sollen die Deutschen auch einen Schlüssel bekommen? Und könnte der französische Schlüssel umgedreht werden, ohne daß die Deutschen ihre Einwilligung gäben?

SPIEGEL: Die Bundesregierung will den Finger gar nicht an den atomaren Drücker bekommen.

Rovan: Ja, bisher zuckte Bonn immer vor einer solchen Verantwortung zurück. Das französische Angebot ist wahrscheinlich nicht bis ins letzte durchdacht, aber es sollte einen Anstoß geben, gemeinsam über mögliche neue Bedrohungsbilder nach dem Ende des Kalten Krieges nachzudenken. Vielleicht braucht Europa eine nukleare Planungsgruppe nach Nato-Vorbild.

SPIEGEL: In der dann alle 15 EU-Mitglieder Sitz und Stimme hätten?

Rovan: Na ja, daß Paris sich etwa von den Griechen was vorschreiben ließe, scheint mir kaum vorstellbar.

SPIEGEL: Uns scheint es undenkbar, daß Chirac die Verfügungsgewalt über seine Atomwaffen mit irgend jemandem teilen will. Die Hartnäckigkeit, mit der er für Nuklearversuche eintritt, hat doch Zweifel an seiner europäischen Gesinnung geweckt. Wird für diesen Neogaullisten Frankreich nicht immer vor Europa kommen?

Rovan: Es ist durchaus möglich, daß Europa scheitert und Chirac seine historische Aufgabe nicht erfüllen kann. Aber aus der Kenntnis seiner Persönlichkeit gehe ich davon aus, daß der Wille und das Bewußtsein, Europa voranzubringen, bei ihm vorhanden sind. Es wird in den nächsten drei Jahren in Frankreich keine wichtigen Wahlen geben. Der Präsident hat zunächst einmal seine politischen Schulden bezahlt; von jetzt an kann er fast alles machen, was er will. Seine antieuropäischen Freunde könnten ihn nicht daran hindern.

SPIEGEL: Neigt Chirac nicht ohnehin zu überraschenden Vorstößen? Auch in der Bosnien-Frage tat er plötzlich so, als könne Frankreich allein Srebrenica zurückerobern; die Briten diffamierte er als Appeasement-Politiker.

Rovan: Er hat zwar allerhand gesagt, aber allein konnte er gar nichts tun. Wir hätten 1991 verhindern sollen, daß Jugoslawien auseinanderbrach. Das wäre möglich gewesen, wenn wir alle an einem Strang gezogen hätten.

SPIEGEL: Statt dessen haben Briten, Franzosen und Deutsche ihr eigenes Spiel auf dem Balkan getrieben. Jetzt hat die Nato erstmals massiv zugeschlagen. Zu spät?

Rovan: Das Ende ist noch lange nicht in Sicht. Wie es bei Heinrich Heine heißt: "Doch es will mich schier bedünken, daß der Rabbi und der Mönch, daß sie alle beide stinken." Auf dem Balkan stinken alle drei. Tudjman ist ein alter kommunistischer Funktionär, der, genauso wie Milosevic, zum autoritären Nationalisten wurde, und Izetbegovic ist ein Islamist. An dem Tag, an dem die Bosnier die Oberhand gewinnen, werden sie genauso viele Frauen vergewaltigen wie vorher die Serben. So haben sie es in den vergangenen Jahrhunderten ja oft getan. Die Vorstellung, mit einer Intervention dauerhaften Frieden zu stiften, ist absurd, da können noch so viele Intellektuelle für Sarajevo hungern.

SPIEGEL: Immerhin hat Chirac die anfängliche Sympathie Frankreichs für die Serben aufgegeben und sich eindeutig gegen die Barbarei gestellt.

Rovan: Ja, das ist ein Fortschritt, denn es war wichtig, veraltete Solidaritäten zu überwinden. Daß Paris lange so tat, als empfinde es Wohlwollen für das angeblich demokratische Serbien von Milosevic, war absoluter Unsinn. Aber solche Gespenster der Vergangenheit spuken eben in Auswärtigen Ämtern noch Jahrzehnte nach der Wirklichkeit herum.

SPIEGEL: Das lag daran, daß Paris fürchtete, die Deutschen wollten sich eigene Einflußzonen zulegen - auf dem Balkan wie in Osteuropa. Ist die deutsche Einheit vielen Franzosen nach wie vor unheimlich?

Rovan: Vorbehalte gibt es noch in Teilen der politischen Klasse. Ein führender Publizist vom linken Nouvel Observateur sagte mir einmal: In bezug auf Deutschland bin ich mit dem Verstand im Jahre 1995, mit dem Herzen im Jahre 1914 und mit dem Reptiliengehirn im Jahre 1871. Aber diese Haltung stirbt allmählich aus. Sie ist schwer vererbbar, weil die jüngeren Menschen in einer ganz anderen Welt leben.

SPIEGEL: Alter Nationalismus regt sich auch bei jungen Menschen. Befürchten Sie, daß eine neue Generation kommt, in der das europäische Engagement abklingt und damit auch die deutsch-französische Freundschaft abkühlt?

Rovan: Nein. Je stärker sich die europäische Wirklichkeit herausbildet, um so mehr müssen sich die Einstellungen zu Europa ändern. Nicht Liebeserklärungen sind gefragt, sondern Lösungen für das Problem, wie die europäische Staatlichkeit zu verwalten ist, wie Europas Wirtschaft und Gesellschaft politisch und moralisch saniert werden können. Dazu ist weniger Herz nötig und mehr Verstand.

SPIEGEL: Monsieur Rovan, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

DER SPIEGEL 36/1995 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags

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