hide random home http://hamburg.bda.de:800/bda/int/spiegel/artikel/sp36118.html (Einblicke ins Internet, 10/1995)

Auferstanden aus Ruinen

Im Osten viel Neues: Die Einkommen steigen, die Firmen werden wettbewerbsfähiger, die Bürger schöpfen neues Selbstbewußtsein - das ist das Ergebnis einer für den SPIEGEL erstellten, breitangelegten Untersuchung der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland. Nach Crashs und Katastrophen entwickelt sich eine eigene Dynamik im Osten.

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Momentaufnahmen in Ostdeutschland, fünf Jahre nach der Wiedervereinigung. Manchen haben die zurückliegenden Turbulenzen nach oben gespült, andere sind eingebrochen.

Da gibt es Maurermeister mit florierenden Bauunternehmen und Autohändler mit glitzernden Verkaufspalästen. Doch manche Arbeitslose werden niemals mehr einen Job bekommen, Unternehmer, die bankrott gingen, sind lebenslang verschuldet - Karrieren in Ostdeutschland, typisch für die Zeit.

Häufig trennen Sieger und Verlierer nur ein wenig Glück und Geschick. Aufstieg oder Sturz, Rekordumsatz oder Konkurs - die Chancen und Risiken ostdeutscher Existenzgründer scheinen oftmals vom Zufall bestimmt. Doch es steckt auch System dahinter.

Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung wird nun in der einstigen DDR immer deutlicher das Gerüst einer neuen Gesellschaft sichtbar. Da sind viele Bauteile mit Westdesign, die im Osten gleichsam nachgeschmiedet wurden. Doch manch ein Scharnier in dem Konstrukt ist original ostdeutscher Herkunft - und es hält.

Wo früher nahezu einheitliche Löhne an Betriebsführer, Lehrer oder Arbeiter ausgezahlt wurden, da kristallisiert sich mehr und mehr eine differenzierte Gehaltsspirale heraus. Niedergelassene Ärzte, Anwälte und freie Ingenieure heimsen gute Honorare ein, bald so hoch wie im Westen. Auch das Handwerk hat im Osten wieder goldenen Boden.

Doch viele 50jährige, einst "Aktivisten der sozialistischen Arbeit", wurden aus dem hektischen Betriebsleben herausgeschüttelt, alleinerziehende Mütter, in den Arbeitsbrigaden der VEB solidarisch mitgeschleppt, stehen häufig beim Sozialamt für den Kleiderzuschuß an - die Kluft zwischen Arm und Reich wächst.

Leicht ist es nicht, nach oben zu kommen. In einigen Branchen, etwa im Bauhandwerk, im Autohandel oder beim Verkauf von TV- und Videogeräten, tobt ein unerbittlicher Konkurrenzkampf. Viele Betriebe müssen dichtmachen, kaum daß sie eröffnet wurden. Doch der rigorose Ausleseprozeß setzt auch eine eigene Dynamik in Gang.

"Wer den harten ostdeutschen Wettbewerb besteht", meint der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Rüdiger Pohl, "der ist auch für die westliche Konkurrenz fit genug."

Während in der westdeutschen Ellenbogengesellschaft Firmenchefs immer häufiger Spezialisten bemühen, weil selbst im eigenen Betrieb jeder gegen jeden kämpft, beobachten Sozialforscher im Osten eine Art Volkssolidarität im kleinen. Allen Konkurrenzkämpfen zum Trotz halten da mancherorts Kollegen zusammen, beleben alte Netzwerke neu und helfen sich gegenseitig aus der Klemme - ostdeutsches Know-how mit Zukunft, meinen Soziologen.

Nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft, den Treuhand-Skandalen und den durch Arbeitslosigkeit und Wertewandel hervorgerufenen Depressionen holt der Osten, gleichsam auferstanden aus Ruinen, plötzlich in großen Schritten auf - freilich anders, als manche Experten dachten. "Ostdeutschland auf dem Weg zu einem getreuen Abbild der westdeutschen Wirtschaft und Gesellschaft zu sehen", glaubt der IWH-Chef Pohl, wäre "völlig falsch".

Im Auftrag des SPIEGEL haben Pohl und seine Mitarbeiter die bislang breitest gefächerte Bestandsaufnahme der Lebensverhältnisse zwischen Ostsee und Erzgebirge zusammengestellt (siehe Grafiken). Insgesamt 108 Indikatoren wurden erhoben, von harten Wirtschaftsdaten bis zu kulturellen Eigenheiten. Die Forscher erkundeten Schuldenstand und Scheidungsquoten der Ostdeutschen, errechneten Lohnniveaus und Geburtenentwicklung und bewerteten Rauchgewohnheiten wie TV-Konsum. Sie zählten Sportplätze und Schwimmbäder und ermittelten, wieviel Müll jeder Ostbürger produziert. Überdies wurden die einzelnen Daten interpretiert, miteinander in Beziehung gesetzt und, gleich einem Mosaik, zusammengeführt.

Die Ergebnisse geben detailliert über den ostdeutschen Alltag Auskunft, fünf Jahre nach der Wiedervereinigung - eine Momentaufnahme der Lebensqualität in Deutschland Ost. Fazit der hallischen Forscher: "Die Angleichung der Lebensverhältnisse gegenüber dem Westen ist weit vorangeschritten."

Allerorten aber seien auch die "Nachwirkungen des abrupten Systemwechsels noch spürbar". Viele Lücken zwischen Ost und West würden wohl "auf absehbare Zeit" nicht geschlossen. Indes sei der Osten in einigen Bereichen, etwa bei der Versorgung mit Kindergartenplätzen und beim Energiesparen, dem Westen sogar voraus.

Vorm Fernseher, beim Wäschewaschen und hinterm Lenkrad - da ist die deutsche Einheit fast perfekt. Wie im Westen so besitzen mittlerweile auch nahezu alle Haushalte im Osten einen Farbfernseher und eine Waschmaschine. Mit der Anschaffung von Videorecordern und Personalcomputern haben die Ostdeutschen beinahe gleichgezogen. Und rein statistisch kommt bereits auf 2,3 Ostbürger ein eigener Wagen (Westquote: 2) .

Mehr als drei Millionen Autos haben die Ossis seit der Wende gekauft - Deutschland, einig Autofahrerland.

Für die Pflege ihrer geliebten Blechkarosse aber nehmen sich Ostbürger durchschnittlich noch mehr Zeit als die gehetzten Wessis. Sie geben auch mehr Geld für den Wagen aus, pro Arbeitnehmerhaushalt vergangenes Jahr allein 605 Mark (Westen: 494 Mark) im Monat. Resümee des IWH: Das Auto sei "der Ostdeutschen liebstes Kind".

Aus alten DDR-Zeiten haben sich die Ostbürger allerlei Eigenheiten bewahrt. Sie bleiben abends gern zu Hause und sitzen länger vorm Fernseher. Und sie bevorzugen andere Sendungen: Im Gegensatz zu den Westdeutschen, die nach den Erhebungen von Alltagsforschern auch mal eine TV-Dokumentation anschauen, wollen die Ostdeutschen auf dem Bildschirm vor allem Actionfilme und Unterhaltungsserien sehen.

Kulturmuffel aber sind die Ostler nicht: Während die Wessis sich häufiger auf dem Tennisplatz oder in der Kneipe herumdrücken, gehen Ostdeutsche öfter ins Theater, hören Musik und basteln daheim mit der Familie.

Der Politik haben, sechs Jahre nach

der friedlichen Revolution, viele längst den Rücken gekehrt. CDU und Liberale, schon zu DDR-Zeiten als Blockparteien präsent, verlieren rapide an Mitgliedern. Auch der neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei laufen die Genossen weg. Zuwachs, wenn auch leichten, verzeichnen nur die Bündnis-Grünen.

Mitgliederstärkste Partei im Osten ist, immer noch, die PDS (mit 121425 Mitgliedern). Die SED-Nachfolgerin wird vor allem von Staatsdienern gewählt, die oft noch aus DDR-Behörden kommen: 35 Prozent der ostdeutschen Beamten sind PDS-Wähler, aus Unzufriedenheit, wie viele angeben.

Dabei hat sich das durchschnittliche Arbeitssalär der Ostbürger seit 1990 fast verdoppelt, auf 2044 Mark netto im Monat (Westnettogehalt: 2687 Mark); stark gefragte Bauhandwerker, beispielsweise die Dachdecker, verdienen heute im Schnitt schon fast soviel wie ihre Kollegen im Westen.

Beinahe auf Weststand sind auch die Tarifgehälter von Bankangestellten und Einzelhandelsverkäufern. Hingegen liegen ostdeutsche Textilarbeiter, mit 71 Prozent des Westgehaltes, noch weit hinter ihren Kollegen in Krefeld, Augsburg oder Hof zurück. In vielen anderen Berufen geht die Angleichung derzeit nur schleppend voran.

Zwar sind die Einkünfte der ostdeutschen Haushalte, ob Rentner, Sozialhilfeempfänger oder Arbeitnehmer, insgesamt noch erheblich geringer als im Westen. Ihre Kaufkraft erreicht jedoch bereits 78 Prozent des Westniveaus. Das liegt an den bislang unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in Ost und West.

So kostet ein Brötchen in Schwerin derzeit etwa 30 Pfennig, in München müssen die Bürger 60 Pfennig für die Semmel zahlen. Für ein Glas Bier, an der Isar häufig 5 Mark teuer, zahlen Erfurter gewöhnlich nur 3 Mark. Eine Straßenbahnkarte (einfache Fahrt) kostet in Dresden 2 Mark, in Hannover 3,10 Mark.

In der Arbeitsproduktivität liegt der Osten noch weit zurück - beim verarbeitenden Gewerbe erreichen Ostbetriebe im Schnitt nur den halben Weststandard. Doch sie holen mächtig auf. Ob im Opelwerk Eisenach oder in der Rostocker Warnow-Werft, im Siemens-Chip-Betrieb in Dresden oder in einer der mecklenburgischen Agrarfabriken - neue Werke und modernisierte Altbetriebe sind technisch auf dem letzten Stand. "Eine beträchtliche Zahl ostdeutscher Unternehmen", berichtet das IWH, weise "bereits eine höhere Produktivität auf als vergleichbare Westbetriebe".

Und während herkömmliche Telefonverbindungen in Westdeutschland noch zumeist über Kupferdraht geschaltet werden, knüpfen die Teletechniker im Osten, von Görlitz bis Güstrow, von Zwickau bis Ueckermünde, flächendeckend hochmoderne Glasfasernetze. Neugebaute Kraftwerke und vor allem Kläranlagen waren zwar teils überteuert. Mit solcherlei Neubauten wurde im Osten jedoch schlagartig eine Runderneuerung eingeleitet, die in Westdeutschland größtenteils noch bevorsteht.

Auch in den Köpfen der Menschen ist ein neues Zeitalter angebrochen. Zwar finden nach einer Emnid-Umfrage im Auftrag des SPIEGEL 53 Prozent der Ostbürger, die Entwicklung nach der Wende sei "schlechter als erwartet" gelaufen. Zugleich aber kommt vor allem bei jüngeren Leuten, mental gestärkt durch DDR-Zusammenbruch und Neubeginn, ein bislang unbekanntes Selbstbewußtsein auf.

Aus dem "Wirbel von Veränderungen, Brüchen und auch Katastrophen" sei die Mehrheit der Ostdeutschen mit neuen Kräften hervorgegangen, glaubt die brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD): "Wenn wir jetzt eine Zwischenbilanz ziehen, dann können wir stolz sein."

Schon prophezeit, in der Süddeutschen Zeitung, ein Ost-Berliner Kommentator, es sei "nur noch eine Frage der Zeit, bis die einstmals neuen Länder auf die Überholspur wechseln".

So optimistisch sind die Wirtschaftsexperten keineswegs. Kürzlich warnte etwa Johannes Ludewig, im Bonner Wirtschaftsministerium zuständiger Staatssekretär für den Aufbau Ost:

"Wir sind erst auf halbem Wege."

Klaus von Dohnanyi, Aufsichtsratsvorsitzender der Leipziger Takraf AG, fürchtet angesichts rückständiger Betriebe noch große Probleme: "Diese Lage ist dramatisch."

Tatsächlich sind die Ostländer, mit einer durchschnittlichen Steigerung des Bruttoinlandsprodukts von neun Prozent im Jahr, nach der IWH-Analyse "die Region in Europa mit den größten Wachstumsraten".

In absoluten Zahlen gerechnet liegt die Wirtschaftskraft Ost freilich weit hinter dem westdeutschen Stand. Zum gesamten Bruttoinlandsprodukt steuern die Ostdeutschen nur etwa zehn Prozent bei. Bezogen auf die Einwohner in Ost (15,5 Millionen) und West (66 Millionen) müßten sie jedoch rund ein Viertel der gesamtdeutschen Wertschöpfung erwirtschaften.

Wie in der alten Bundesrepublik so bilden sich auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR höchst unterschiedlich entwickelte Regionen heraus: Zwischen den weitläufigen Wiesen in Mecklenburg-Vorpommern und den eng bebauten industriellen Zentren in Sachsen oder Thüringen wird sich bald ein ähnliches Gefälle auftun wie zwischen dem armen Ostfriesland und dem Speckgürtel rund um München. Im vergangenen Juli war die Arbeitslosenquote in Dresden mit 11,3 Prozent bereits niedriger als in krisengeschüttelten Weststädten wie Bremen (12,5 Prozent) oder Wilhelmshaven (15,6 Prozent).

Doch während im Westen die wirtschaftlichen Strukturen weitgehend festgefügt sind, kann im Osten noch viel passieren.

"Die Stabilität der Wirtschaft hängt ab von den Menschen", sagt Wirtschaftsprofessor Pohl. "Die Ostdeutschen haben derzeit Entfaltungsmöglichkeiten wie nie, aber sie können auch tiefer fallen als je zuvor."

Der Leipziger Sven Janszky hat seine Chance genutzt. Zu DDR-Zeiten war der Journalistikstudent auf bestem Wege, ein treuer Diener der Einheitssozialisten zu werden. Auf der Oberschule in Karl-Marx-Stadt agitierte Janszky, heute 22, als führender FDJ-Funktionär seine Mitschüler. Auf Vorschlag des Direktors kam der gelehrige Eleve 1988 sogar

ins republikweite Auswahlverfahren für die Ausbildung zum diplomatischen Dienst.

Bald rückte Janszky als einer von 20 Auserwählten in die sogenannte Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Halle ein - Beginn einer Eliteausbildung, die später noch ans Moskauer Institut für Internationale Beziehungen führen sollte.

Da kam die Wende, und Janszky fühlte sich keineswegs beglückt: "Das war noch die Propaganda, die ich im Kopf hatte." Er faßte sich schnell, gründete mit Kommilitonen das Leipziger Uni- und Stadtradio "Mephisto" und arbeitet heute für diverse ARD-Hörfunksender. Der einstige FDJ-Kader ist zum überzeugten Marktwirtschaftler mutiert. Janszkys Credo: "Für Leute, die kreativ sind, gibt´s im Prinzip alle Chancen."

Vorausgesetzt, sie sind jung genug. Der Ost-Berliner Ernst Rücker, 56, ist da ein anderer Fall. Als Spitzenmanager des DDR-Außenhandelsbetriebs Holz und Papier leitete Rücker einst den Innenausbau von Nobelhotels in Ost und West. Unter seiner Regie wurde das West-

Berliner Steigenberger eingerichtet wie auch das Grand Hotel an der Friedrichstraße. Zuletzt war Rücker stellvertretender Generaldirektor - dann kam der Abstieg.

Die Privatisierung der DDR-Firma, behauptet Rücker, sei "von der Treuhand aus politischen Gründen nicht zugelassen worden". Ein Nachfolgeunternehmen, das er leitete, machte ebenfalls dicht. Heute tingelt der einstige VEB-Manager als freier Möbelverkäufer über Land - auf eigenes Risiko.

Ob einstmals politisch linientreu oder eher distanziert - die heute 40- und 50jährigen sind die Verlierergeneration der Einheit. Zu jung für den Vorruhestand, jedoch in den Augen vieler Personalchefs zu alt für einen Neubeginn, hat die Marktwirtschaft viele von ihnen gleich einer Dampfwalze überrollt.

Lothar Scholler, 55, jahrzehntelang EDV-Spezialist beim Computerhersteller Robotron in Leipzig, hält das letztlich sogar für richtig: "Wenn ich Unternehmer wäre, hätte ich mich auch rausgeschmissen."

Nun bearbeitet Scholler in einer Leipziger Behörde Widerspruchsbescheide von Rentenfestsetzungen. Sein Vertrag ist befristet, was Scholler im kommenden Jahr tut, weiß er nicht: "Ein 50jähriger macht alles, der putzt Ihnen die Stiefel, wenn´s sein muß."

Schollers Ehefrau Elke, 55, war als Diplomchemikerin im Kombinat Takraf für die Wasserqualität zuständig. Nach der Wende wurde sie auf Kurzarbeit gesetzt, dann, 1992, absolvierte sie zwei Jahre lang eine Umschulung beim Arbeitsamt: "Führungskraft für das mittlere und gehobene Management".

Daraus wurde nichts. "In meinem Alter", glaubt Elke Scholler resigniert, "hat man keine Chance mehr, schon gar

nicht als Frau."

Die Frauen gehören zu den Hauptverlierern der Einheit. Zwei Drittel aller ostdeutschen Arbeitslosen sind weiblich. Einigermaßen gute Berufschancen haben ostdeutsche Frauen praktisch nur noch im Staatsdienst, wo sie immerhin 62 Prozent der Stellen besetzen. Doch Karriere machen vor allem Männer. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hatten aus einer Gruppe von Sachbearbeitern nur 5 Prozent der Frauen, aber 20 Prozent der Männer seit 1990 den Aufstieg auf qualifiziertere Posten geschafft.

Trotz der hohen Frauenarbeitslosigkeit war der Anteil der Doppelverdienerhaushalte im Osten (44 Prozent der Ehepaare) vergangenes Jahr noch deutlich höher als in Westdeutschland (39 Prozent der Ehepaare). Dadurch, analysiert das IWH, werde "ein Teil des ostdeutschen Lohnrückstandes abgefangen".

Zudem malochen die Ostler, wenn sie Arbeit haben, in der Regel länger als

die Westler. Östlich der Elbe gibt es die 35-Stunden-Woche noch nicht: Ostdeutsche reißen im Jahr etwa 1700 Arbeitsstunden ab, Westdeutsche nur 1580 Stunden. Würden die Ostler genauso wenig arbeiten wie die Westler, könnte die Anzahl der Erwerbstätigen rein rechnerisch um eine halbe Million wachsen. Doch es gibt eine klammheimliche, tarifvertraglich abgesicherte Verabredung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern - finanzielle Zufriedenheit geht vor.

Aufbauwillige Ostdeutsche wollen auch gar nicht kürzertreten. Frank Wangneth, 34, ehemals Arbeiter auf der Rostocker Neptun-Werft und jetzt bei einer Hamburger Baufirma beschäftigt, zieht ständig "viele Überstunden" durch. "Schwer arbeiten mußten wir früher auch", sagt Wangneth.

Auch Viola Winkler, 37, klotzt mächtig ran. Täglich kämpft sie gegen Verzagtheiten ihrer Mitbürger an. Die Dresdnerin, zu DDR-Zeiten Kindergartenleiterin, ist Mitinhaberin des Saxonia-Bildungsinstituts in Dresden, sie organisiert Umschulungen und Computerkurse. Ihrer Klientel trichtert Winkler vor allem eines ein: "Leute, legt los, macht, helft euch selbst!"

Vielen ostdeutschen Arbeitssuchenden, formuliert sie drastisch, könne

doch nur "ein geistiger Arschtritt" aufhelfen.

Die Unternehmerin kooperiert inzwischen mit Firmen in Spanien, Frankreich und Irland. Ihr größter Coup ist ein Zehnjahresvertrag mit der russischen Raumfahrtagentur: Das Kombinat, das in 32 Betriebsteilen insgesamt 600000 Menschen beschäftigt, will mit Winklers Hilfe marktwirtschaftliches Denken einüben. Demnächst kommt die erste Riege der russischen Raumfahrt-Personalchefs zur Schulung nach Dresden.

Trotz ihres Erfolges lebt Viola Winkler mit Mann und zwei Kindern noch immer bescheiden in einer kohlebeheizten Vierraumwohnung. "Man muß mit den Füßen auf dem Boden bleiben", sagt sie.

Das tun die meisten Ossis. Entgegen der Befürchtung, daß sie sich im Konsumrausch völlig überschulden würden, haben die Bürger offenbar mehrheitlich mit Bedacht gehandelt. Laut Statistik hat jeder Haushalt durchschnittlich nur 2700 Mark an Konsumentenkrediten aufgenommen, Westhaushalte stehen im Schnitt mit knapp 12000 Mark in der Kreide.

Bei Hypothekendarlehen sind die Unterschiede zwischen West (36500 Mark) und Ost (3900 Mark) noch krasser - freilich besitzen auch wesentlich weniger Ossis ein eigenes Haus.

Dafür sparen sie kräftig. Durchschnittlich werden in jedem der Osthaushalte zehn Prozent des verfügbaren Einkommens auf die hohe Kante gelegt. Mittlerweile sind 270 Milliarden Mark Guthaben bei ostdeutschen Banken deponiert, doch das sind nur etwa sechs Prozent des gesamtdeutschen Geldvermögens.

Während bei den Westlern im Schnitt eine Summe von 135000 Mark auf dem Bankkonto liegt, haben die ostdeutschen Haushalte durchschnittlich 40000 Mark angespart. "Der Rückstand beim Geldvermögen", prognostizieren die IWH-Forscher, werde noch "lange erhalten bleiben".

Finanziell am meisten profitiert von der Wende haben bislang die Rentner. Sie verzeichnen laut IWH-Analyse "den größten Einkommenszuwachs". Allzu große Sprünge sind mit den Ostrenten jedoch nicht drin. Zwar haben sich die Nettobezüge seit Mitte 1990 mehr als verdoppelt, allerdings von durchschnittlich 590 Mark auf 1240 Mark im Monat. Damit sind die Rentner Ost in der Grundversorgung gleichauf mit den Rentnern West. Ostdeutsche Frauen, traditionell länger im Arbeitsprozeß, haben sogar etwas mehr Geld als Westrentnerinnen.

Doch in Westdeutschland verfügen die alten Leute häufig über zusätzliche Bezüge, etwa aus Betriebsrenten, privaten Versicherungen oder Vermögenseinkommen. Nach den jüngsten Plänen der Bundesregierung sollen in Ostdeutschland ausgezahlte Rentenbeträge überdies auf dem Stand von heute eingefroren werden. Durch die Inflation stehen den Ostrentnern so im Lauf der nächsten Jahre erhebliche Kaufkraftverluste bevor.

Rentner Helmut Buczko, 66, will nicht jammern. Zusammen mit seiner Frau hat er abzüglich Miete und fixen Kosten im Monat 1400 Mark zum Leben: "Wir haben ein Riesenglück gehabt." Von ihren Arbeitgebern hatten Buczko und seine Frau noch Abfindungen bekommen. Die langten für eine neue Sofagarnitur, einen Videoschnittplatz und ein gebrauchtes Honda-Sportcoupé für 16000 Mark. Der Rentner: "Das fährt seine 220 Sachen."

Sorgen macht sich Buczko, der vier Töchter und acht Enkelkinder hat, um die jungen Leute. In vielen Familien spürt er einen "unheimlichen Frust". Jugendkrawalle und Aufmärsche von Neonazis, ob in Quedlinburg oder in Cottbus, scheinen dem Rentner recht zu geben. Wissenschaftler beobachten anderes. Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hat die überwiegende Mehrheit der 16- bis 29jährigen im Osten, 80 Prozent, keine besonderen Probleme mit der neuen Zeit. Selbst unter jungen Arbeitslosen sei nur jeder zwölfte (8 Prozent) "auf dem No-future-Trip", berichtet IW-Direktor Gerhard Fels. Offenbar, glaubt Fels, "wächst eine vielversprechende innovative Generation heran".

Junge Ostler denken zielstrebiger ans Geldverdienen als der Nachwuchs im Westen. Der Anteil an Abiturienten in Chemnitz, Schwerin oder Rostock ist geringer, die Neigung zum Studieren weniger ausgeprägt: Vergangenes Jahr besuchte nur etwa jeder 22. der 18- bis 35jährigen Ostdeutschen die Universität (Westen: 7,7 Prozent). Zu den beliebtesten Fächern im Osten zählen Betriebswirtschaft und Jura - Fächer mit Aussicht auf gutbezahlte Jobs.

Während der ostdeutsche Uni-Betrieb mittlerweile weitgehend nach westdeutschem Muster läuft, fällt in den Industriebetrieben östlich der Elbe ein erhebliches Forschungsdefizit auf: Die Ausgaben pro Beschäftigten erreichen lediglich 30 Prozent der in Westfirmen für die Entwicklung neuer Technologien verwandten Gelder.

Ein Beleg für den weithin gehegten Verdacht, daß Westfirmen den Osten nur als verlängerte Werkbank und Verkaufstheke schätzen, nicht aber als Innovationslabor?

Ostdeutscher Forscherdrang, glaubt der Zwickauer Ingenieur Jürgen Kurt Görner, 42, sei im Westen nicht beliebt. Der Mann hatte sich 1990 mit einem Spezialunternehmen für Fahrzeugtechnik selbständig gemacht. Vom Opel-Stammwerk in Rüsselsheim bekam er Aufträge zur Entwicklung von Getrieben und konnte zeitweilig 25 Mitarbeiter beschäftigen. Doch dann kündigte seine Bank im vergangenen Jahr, wie Görner beteuert, "ohne Vorwarnung", die Kredite, der Existenzgründer mußte Konkurs anmelden.

Für das Verhalten der Bank hat Görner nur eine Erklärung: "Es muß Druck von außen gegeben haben." Der Ingenieur vermutet, ein Konkurrent aus Westdeutschland habe sein Scheitern gewollt.

Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Fest steht, daß der Aufschwung im Osten derzeit noch so fragil ist wie

ein gerade zusammengebautes Revell-Modellflugzeug - ein Windhauch kann die feingliedrige Konstruktion zerstören.

Ob sich die ostdeutsche Wirtschaft, von der kaum mehr als die "industriellen Kerne" blieben, je aus eigener Kraft wird behaupten können, halten viele Experten noch immer für ungewiß: Bislang haben sich noch zuwenig Fabrikationsbetriebe im Osten angesiedelt. Die Quote der Insolvenzen, seit dem letzten Jahr drastisch angestiegen, liegt um ein Drittel höher als im Westen. Von 10000 Betrieben gehen durchschnittlich 80 in Konkurs. In Sachsen werden für dieses Jahr allein im Baugewerbe 400 Pleiten erwartet - trotz Boom.

Weil bei großen Bauprojekten Aufträge oft auf Ketten von Unternehmern und Subunternehmern verteilt werden, setzt bei einer Pleite leicht ein Dominoeffekt ein. Als im Juli die Erfurter Firma Ritter Bau (Umsatz 1994: 200 Millionen Mark) sowie kurz darauf die Ritter-Tochter EBL (Erste Baugesellschaft Leipzig) zahlungsunfähig wurden, drohte sogleich für Dutzende kleinerer Unternehmen und Handwerksbetriebe das Aus: Viele Vertragspartner hatten ihre Leistungen bereits erledigt, jetzt können sie nur mit geringen Abfindungen aus der Konkursmasse rechnen.

Ein Grund für die Pleiten ist die schlechte Kapitalausstattung vieler Ostbetriebe. Mehr und mehr, so fanden IWH-Chef Pohl und seine Kollegen heraus, treten jedoch betriebswirtschaftliche Fragen in den Vordergrund. Oftmals "stimmen Standort und Marketing nicht", berichtet Pohl, "und mit der Buchführung gibt´s Probleme".

Pohl hält wenig davon, notleidenden Betrieben weiter mit hohen staatlichen Hilfen unter die Arme zu greifen. Um sich zu stabilisieren, müßten die Firmen vielmehr langsam "weg vom staatlichen Tropf". Der Wirtschaftsforscher: "Für die ostdeutschen Unternehmer ist jetzt die Stunde der Bewährung gekommen."

Wieviel Transfergelder künftig noch in den Osten gepumpt werden sollten (bis Jahresende etwa eine Billion Mark), ist unter den Experten umstritten. Der Münchner Unternehmensberater Roland Berger etwa hält den wirtschaftlichen Umbau im Osten für "abgeschlossen" und plädiert für einen Stopp der Supersubventionen. Ostdeutsche Politiker wie der sächsische Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU) hingegen verlangen, die Hilfen nahezu unverändert fortzusetzen. Schommer: "Der Aufschwung trägt sich noch nicht selbst."

Bald eine halbe Million Betriebe waren in den vergangenen Jahren aus dem Boden geschossen. Das leidige Problem, einen Handwerker zu finden - im Osten dürfte es eigentlich geringer sein. Pro 100 000 Einwohner haben sich mittlerweile 826 Handwerksbetriebe (West: 816) etabliert, Schlosser, Elektriker und Kfz-Mechaniker sind besonders häufig vertreten.

Auch an Medizinern mangelt es nicht. In Städten wie Dessau, Brandenburg oder Leipzig praktizieren, bezogen auf die Einwohnerschaft, bereits mehr Allgemeinärzte als in vergleichbaren Weststädten, und beinahe flächendeckend haben sich ungewöhnlich viele Tiermediziner und Zahnärzte niedergelassen - zumeist mit modernsten Praxen.

Gleich einem Barometer für Wendewirren, Firmencrashs und langsame Konsolidierung gibt die Krankenstatistik der Ossis Auskunft: Noch 1989, vor der Wende, blieben die DDR-Bürger ihren Betrieben durchschnittlich um 34 Prozent häufiger wegen Krankheit fern als die Westdeutschen. Bis 1991 sank der Krankenstand dann rapide auf mehr als 10 Prozent unter Westniveau - seither steigen die Krankenzahlen stetig an.

Verblüffende Anpassungseffekte fanden die Forscher auch in der Geburtenstatistik. Nach 1989 waren ostdeutsche Frauen gleichsam in Gebärstreik getreten, die Neugeborenenrate halbierte sich fast.

Aus diesem Umstand jedoch auf eine generelle Babyflaute zu schließen wäre kurzsichtig. Denn bei näherer Betrachtung der statistischen Zahlenkolonnen machten die Experten eine frappierende Entdeckung: Dem allgemeinen Geburtenknick zum Trotz hat bislang noch jede ostdeutsche Frau durchschnittlich mehr Kinder zur Welt gebracht als ihre Altersgenossin im Westen. Daraus errechneten die Forscher in komplizierten demographischen Modellen, daß die ostdeutsche Geburtenrate im Lauf der nächsten Jahre wieder ansteigen wird. Die Frauen schieben gleichsam einen Babyberg vor sich her, weil sie, ein Anpassungsprozeß an den Westen, jetzt später gebären.

Doreen Salzmann, 20, Banklehrling in Erfurt, ist so ein Beispiel: "Wenn eine Frau zu DDR-Zeiten mit 21 noch kein Kind hatte, bekam sie doch Torschlußpanik", berichtet Salzmann. Heute, meint die junge Frau, "verschiebt sich alles nach hinten". Natürlich wolle sie "irgendwann eine Familie gründen und ein Haus bauen, aber erst will ich Sicherheit im Beruf".

Ob Scheidungsquote, Hochzeitsstatistik oder allgemeine Lebenserwartung - vor allem bei eher persönlichen Fragen weist die Ost-West-Statistik noch allerlei Differenzen auf.

Die ostdeutsche Selbstmordrate beispielsweise liegt noch immer höher als im Westen, seit der Wende nimmt die Zahl der Selbstmörder jedoch rapide

ab. Suizidexperten wie der Dresdner

Psychiater Otto Bach sehen im "gesteigerten Lebenskampf" einen Grund - der halte die Leute jetzt auf Trab.

Daß die Ostdeutschen im Schnitt zwei bis drei Jahre früher sterben als Westbürger, führen die Sozialforscher vor allem auf den unterschiedlichen Lebenswandel zurück: Ostler treiben weniger Sport, essen mehr Fett und hatten bislang zumeist schlechtere Arbeitsbedingungen.

Doch die einstmals besorgniserregende Luftqualität hat sich gebessert, das Trinkwasser ist sauberer geworden. Es gibt dreimal soviel Telefonanschlüsse und Tausende von Kilometern mehr asphaltierte Straßen als 1989.

Wieso jammern die Ossis bloß immer noch?

Andreas Kausch, 46, Regisseur des Erfurter Kabaretts "Die Arche", spürt´s am eigenen Leib. Der Sog des negativen Denkens, meint er, beeinflusse seine Arbeit: "Wir müssen höllisch aufpassen, daß wir keine Jammerprogramme machen."

Meinungsforscher, die der ostdeutschen Befindlichkeit nachspüren, entdecken immer neue Facetten der Nörgelei. Da meckern Ostbürger über ihr (gestiegenes) Haushaltseinkommen und behaupten, sie seien "Bürger zweiter Klasse". Sie fürchten sich, trotz ähnlicher Trends in der Kriminalitätsstatistik, mehr vor Raub und Diebstahl als Westdeutsche und klagen über Mieten und Kanalgebühren.

Zwar meint einer Emnid-Untersuchung zufolge jeder zweite Befragte im Osten, ihm persönlich gehe es heute "besser" oder gar "viel besser" als zu DDR-Zeiten. Zwei Drittel der Ostbürger vertreten indes die Ansicht: "Marktwirtschaft und Menschlichkeit, das paßt nicht zusammen."

Alles nur Gejammer und Undankbarkeit?

Auf einigen Gebieten sind die empfundenen Verschlechterungen ganz real. So zahlen Ostbürger mittlerweile durchschnittlich siebenmal mehr Kaltmiete als früher, aber noch immer bröckelt in mancher Wohnstube der Deckenputz, die Wasserleitung leckt, das Kinderzimmer ist feucht: die Bewohner sehen keine verbesserte Leistung für den höheren Mietpreis.

Daß jedoch ihre Ausgaben für die Kaltmiete mit 16 Prozent des verfügbaren Haushaltseinkommens noch immer niedriger sind als bei den Westdeutschen (23,3 Prozent), tröstet wenig. Was bedeutet Statistik, wenn das Klo außerhalb der Wohnung liegt?

Nicht alles, was aus DDR-Zeiten stammt, ist ohne Zukunft. Im Gegenteil: Aus ihrer Vergangenheit könnte den Ossis unverhofft Kapital zuwachsen.

In ihrer persönlichen Erfahrungswelt haben die Ostdeutschen ein Crash-Programm durchlebt, das seinesgleichen sucht. Binnen fünf Jahren machten sie einen gesellschaftlichen Umbruch durch, für den sich der Westen ein halbes Jahrhundert Zeit lassen konnte.

Wenn sie dabei, wofür einiges spricht, manche althergebrachte Gewohnheit in die neue Zeit herübergerettet haben, wären sie nach Meinung von Sozialforschern für die Zukunft gut gewappnet. Der Mainzer Soziologe Stefan Hradil hat in der alten Ostneigung zu Seilschaften und Netzwerken, in den stärkeren Zusammengehörigkeitsgefühlen in Familie und Beruf sowie in der Fähigkeit, selbst chaotische Produktionssituationen zu meistern, bereits wichtige Tugenden ausgemacht.

Im Vergleich zum "sklerotischen Westen", glaubt Hradil, seien derlei Findigkeiten echte "Zukunftskapitalien". Denn "in der postindustriellen Gesellschaft" werde künftig mehr Flexibilität und Integrationskraft gefragt sein. Es spricht deshalb einiges dafür, meint Hradil, daß die Ostbürger anstehende Modernisierungsprozesse mental womöglich besser meistern könnten als die Westdeutschen.

Da würde am Ende noch die Parole von Walter Ulbricht eingelöst. Der einstige Staatsratsvorsitzende der DDR hatte verlangt, den Westen zu "überholen, ohne einzuholen".

Im nächsten Heft

Thüringen, das Land in der Mitte: wo Deutschland am schnellsten zusammenwächst.

DER SPIEGEL 36/1995 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags

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